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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Varianten zur Reihung von Molekülen, und das bedeutet, dass die durch mich bestimmte Reihung von Molekülen noch unzählige Male wiederholt wird, und daraus folgt, dass ich nicht allein im Universum bin, sondern dass es mich in endloser Menge gibt, und wer genau aus dieser Menge sich jetzt hier befindet, ist absolut unmöglich zu bestimmen . . .«
    Noch einer aus Doktor Korowins Sammlung »interessanter Menschen«, erriet die Lissizyna. Der Patient nickte sich befriedigt zu und schritt vorbei.
    Er hatte sie nicht bemerkt. Uff!
    Polina Andrejewna holte tief Luft und ging weiter.
    Was blinkte denn da rechter Hand im Mondlicht? Es sah aus wie ein Glasdach. Das Palmenhaus?
    Es war das Palmenhaus, ein riesiges Gebäude – ein richtiger Glaspalast.
    Leise quietschte die durchsichtige, fast unsichtbare Tür, und der Lissizyna schlugen seltsame Düfte, Feuchtigkeit und Wärme entgegen. Sie machte ein paar Schritte auf einem kleinen Weg, blieb mit dem Fuß irgendwo hängen, an einem Schlauch oder einer Liane, und streifte mit der Hand irgendwelche Stacheln.
    Sie schrie auf vor Schmerz und lauschte.
    Stille.
    Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und rief:
    »Alexej Stepanowitsch!«
    Nichts, kein Rascheln.
    Sie versuchte es lauter:
    »Alexej Step anowitsch! Aljoscha! Ich bin es, Pelagia!«
    Was raschelte denn da in der Nähe? Waren das Schritte?
    Sie lief schnell in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und schob Zweige und Halme auseinander.
    »So antworten Sie doch! Wenn Sie sich verstecken, kann ich Sie nicht finden!«
    Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, die doch nicht so undurchdringlich war. Ein blasses Licht sickerte ungehindert durch das Glasdach, wurde von den breiten, glänzenden Blättern zurückgeworfen, funkelte in den Tautropfen und verdichtete die bizarren Schatten.
    »Ah-ah!« Polina Andrejewna stieß einen erstickten Schrei aus und fasste sich ans Herz.
    Direkt vor ihrer Nase hing, leicht hin – und herschaukelnd, ein vollkommen nacktes, mageres menschliches Bein, das im matten Glanz des Mondes sahnigweiß schimmerte.
    Und da, wenige Zoll daneben, aber nicht mehr im Licht, sondern im Schatten, baumelte auch das zweite Bein.
    »Mein Gott, mein Gott. . .« Frau Lissizyna bekreuzigte sich, wagte aber nicht, den Kopf zu heben – sie wusste ja, was sie dort sehen würde: einen Erhängten mit aufgerissenen Augen, herausquellender Zunge und lang gerecktem Hals.
    Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und tippte vorsichtig an das Bein – war es schon erkaltet?
    Das Bein zuckte plötzlich zurück, von oben erklang ein Kichern, und mit einem Schrei, der noch durchdringender war als der vorherige, sprang Polina Andrejewna zurück.
    Aljoscha Lentotschkin hing nicht, nein, er saß auf dem dicken, ausladenden Zweig eines unbekannten Baumes und schlenkerte sorglos mit den Beinen. Sein Gesicht war vom hellen Mondlicht übergossen, doch Polina Andrejewna erkannte den Cherub von früher fast nicht mehr, so abgemagert war er. Seine wirren Haare hingen verfilzt herab, seine Wangen hatten die kindlichen Rundungen verloren, Schlüsselbeine und Rippen standen hervor wie die Metallspitzen bei einem aufgespannten Regenschirm.
    Frau Lissizyna wandte hastig den Blick ab, der unwillkürlich weiter nach unten geglitten war als erlaubt, schämte sich aber gleich darauf: Vor ihr stand kein Mann, sondern ein unglückliches, schwaches Wesen, nicht mehr das übermütige Hündchen, das den nachsichtigen Vater Mitrofani angekläfft hatte, sondern ein ausgesetztes Wolfsjunges – hungrig, krank, räudig.
    »Das kitzelt«, sagte Alexej Stepanowitsch und kicherte wieder.
    »Komm runter, Aljoschenka, komm herunter«, bat sie, obwohl sie Lentotschkin früher immer nur mit Vor – und Vatersnamen und mit »Sie« angeredet hatte. Doch unter diesen Umständen, da es um den Verstand des Jungen so traurig bestellt und er obendrein völlig nackt war, wäre es eigenartig gewesen, solche Förmlichkeiten zu wahren.
    »Na komm schon.« Polina Andrejewna streckte ihm beide Arme entgegen. »Ich bin es, Schwester Pelagia. Erkennst du mich?«
    In früheren Zeiten hatten Alexej Stepanowitsch und die geistliehe Tochter des Bischofs gegenseitig eine starke Abneigung empfunden. Ein – oder zweimal hatte der kühne Jüngling sogar versucht, sich mit der Nonne einen üblen Scherz zu erlauben, daraufhin aber eine unerwartet heftige Abfuhr erhalten, und seither hatte er so getan, als beachte er sie überhaupt nicht mehr. Doch jetzt ging es nicht

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