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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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»Wassilisk« in einem langen Mantel mit Kapuze, ähnlich dem Gewand der Eremiten, aus meinem Versteck hervorkommen und mit Grabesstimme rufen wollen: »Ich bin es, der heilige Wassilisk! Schande über dich, du Usurpator!« Das würde dem Schreckgespenst einen Schrecken einjagen, dachte ich, und es von seinem Stein ins Wasser schleudern.
    Beim Anblick der seltsamen schwarzen Gestalt, die über dem See zu schweben schien, geschah etwas mit mir – und zwar ganz deutlich im physiologischen Sinne. Ich verspürte eine unerklärliche Kälte, die mich überlief, und ich konnte zwar meine Arme und Beine noch bewegen (ich erinnere mich noch sehr gut, dass ich die Thermoskanne auf den Boden stellte und mit der Hand an meine eiskalte Stirn fasste), aber nur langsam und mit großer Mühe, wie unter Wasser. Niemals im Leben habe ich etwas Ähnliches erlebt.
    Hinter dem Rücken der schweigenden Silhouette strömte ein Licht hervor, das weit heller war als das Mondlicht. Nein, ich kann es nicht gut beschreiben, denn »strömen« ist nicht der richtige Ausdruck dafür, aber ich weiß nicht, wie ich es besser erklären soll. Gerade eben war nichts da gewesen als das Strahlen des Mondes – und plötzlich schien es, als sei die ganze Welt erleuchtet, so dass ich blinzeln musste und die Augen mit der Hand abschirmte.
    Das Blut pulsierte mir so laut in den Ohren, dass ich fast nichts mehr hörte, aber dennoch vernahm ich deutlich vier Worte, auch wenn sie ganz leise gesprochen wurden: »Nicht Rettung, sondern Verwesung«, wobei die schwarze Gestalt mit der Hand zur Nachbarinsel wies. Als sie aber begann, sich direkt über das Wasser auf mich zuzubewegen, fiel die Erstarrung von mir ab, und ich ergriff auf schmachvollste Weise, schreiend und offenbar sogar schluchzend, die Flucht. Einen wackeren Paladin haben Sie sich ausgesucht, Sie kurzsichtiger Kirchenfürst!
    Dann aber, als ich die Kapelle erreicht hatte, schämte ich mich. Wenn es sich vielleicht um ein besonders tückisches Spiel handelte, dann durfte ich keinen Narren aus mir machen lassen, sagte ich mir. Wenn es aber kein Spiel war . . . Das würde bedeuten, dass Gott der Herr existiert, dass das Universum in sieben Tagen erschaffen wurde, dass es Engel im Himmel gibt und sich die Himmelsgestirne um die Erde drehen. Da aber all das vollständig unmöglich ist, gibt es auch keinen Wassilisk. Nach dieser Schlussfolgerung machte ich mich höchst energisch in umgekehrter Richtung auf den Weg zurück zur Landzunge, aber das rätselhafte Strahlen und die schwarze Silhouette waren nicht mehr zu sehen. Mit lauten, kräftigen Schritten, um mir Mut zu machen, ging ich am Ufer auf und ab und pfiff dabei das Lied vom Popen und seinem Hund vor mich hin. Ich überzeugte mich endgültig von der unerschütterlichen Stofflichkeit der Welt, sammelte meine Thermoskanne und die Hab Seligkeiten aus dem Hotel wieder ein und kehrte zur »Arche« zurück.
    Aber den Bericht wollte ich nicht schreiben, ohne Wassilisk noch ein weiteres Mal gesehen und mir Gewissheit verschafft zu haben – entweder darüber, dass es sich um ein Kunststück handelt, oder darüber, dass ich den Verstand verloren habe und in die Heilanstalt von Doktor Korowin gehöre.
    Wie zum Trotz war der Himmel in den beiden folgenden Nächten bedeckt. Ich spazierte durch die Straßen von Ararat, die ich schon nicht mehr sehen konnte, trank heiliges Mineralwasser und Kaffee aus Jamaika, und vor lauter Langeweile las ich allerlei dummes Zeug im Lesesaal des Klosters. Die dritte Nacht endlich versprach mondhell zu werden, und mit stockendem Herzen traf ich meine Vorbereitungen, um wieder auf die Landzunge zu gehen. Durch die erzwungene Untätigkeit, das Warten und die inneren Kämpfe waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt, so dass mich kurz vor der Expedition beinahe völlig der Mut verließ. Ich durfte mir aber die Gelegenheit nicht entgehen lassen, und so fasste ich einen Entschluss, der mir wahrhaft salomonisch vorkam.
    Im vorigen Brief schrieb ich bereits über den Rechtsanwalt aus Moskau, den Freund geräucherter Renken und frischer Luft. Er heißt Kubowski und kommt schon seit einigen Jahren jeden Herbst nach Kanaan. Er sagt, der November sei hier besonders schön. Wir logieren im selben Hotel und haben ein paarmal gemeinsam zu Mittag gegessen, wobei er etwa fünfmal so viel gegessen und getrunken hat wie ich (und ich habe keinen schlechten Appetit, was Kusma Saweljewitsch – Ihr Koch und mein Wohltäter – bezeugen kann).

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