Pellkartoffeln und Popcorn
den Klassikern näherzutreten. Bisher hatten wir gewissenhaft den ›Schimmelreiter‹ durchgeackert und ›Pole Poppenspäler‹, zwischendurch ein paar noch fehlende Balladen mitgenommen, weil Auswendiglernen die Konzentration fördert, und nun sollten wir uns mit den Werken der großen deutschen Dichter vertraut machen.
Wir waren begeistert! Mit dreizehn, vierzehn Jahren ist man ohnehin ein bißchen schwärmerisch veranlagt, heroische Vorbilder hatten wir nicht mehr, die waren 1945 ruhmlos untergegangen, und so erkoren wir Tell zu unserem Helden. Wir spielten in Reginas Garten mit theatralischem Aufwand die Rütli-Szene nach und trugen uns eine Zeitlang mit dem Gedanken, das hehre Werk in voller Länge zur Aufführung zu bringen. Zum Glück wurde dieser Plan dann doch nicht verwirklicht, denn ich sollte den Walter mimen, dem sein Vater bekanntlich den Apfel vom Kopf schoß. Dieses Problem ließ sich aber nie befriedigend lösen, obwohl wir stundenlang experimentierten. Auf Axels Anregung hin umwickelten wir den Apfelstiel mit einem Zwirnfaden mit dem der Boskop von meinem Haupte gezogen werden sollte, während Irene mit ihrer selbstgebastelten Armbrust annähernd in meine Richtung zu schießen hatte. Ich schwebte immer in tausend Ängsten, daß sie mich bei diesen Versuchen doch mal treffen würde, vor lauter Zittern fiel das Obst immer viel zu früh, und schließlich kamen wir auf die Idee, die ganze Szene in die Kulisse zu verlegen und dem Publikum nur den sorgsam mit einem Messer zerteilten Apfel vorzuweisen. Leider hatte Schiller aber vorgesehen, daß sich das ganze Geschehen auf der Bühne abzuspielen habe, und der vorgegebene Text paßte zu unserer geplanten Version nun überhaupt nicht. So ließen wir die ganze Sache wieder fallen und trösteten uns mit der Aussicht, daß wir über kurz oder lang auch die Jungfrau von Orleans‹ lesen würden. Die war noch viel heroischer und zu dem noch weiblich.
Zwischen Quasi und uns herrschte Burgfrieden. Sie hatte zwar ihre Mucken, aber die hatten andere Lehrer auch. Und ihre gelegentlichen Tadel, meist in ironischer Form vorgebracht und deshalb doppelt wirksam, wurden von den Betroffenen schweigend geschluckt, schwer verdaut und als Ansporn genommen, sich vielleicht doch mal ein bißchen intensiver mit dem Unterrichtsstoff zu beschäftigen. Etwas gab es aber, worüber wir uns zu gern den Kopf zerbrachen: Quasi schwieg sich beharrlich über ihr Privatleben aus, wehrte gelegentliche Fangfragen sehr geschickt ab und ließ uns in völliger Unkenntnis dessen, was sich außerhalb des Schulgebäudes bei ihr abspielte. Diese Geheimnistuerei reizte uns immer wieder, zumal wir von unseren übrigen Lehrern eine weitaus größere Offenheit gewöhnt waren. Besonders Dr. Weigand hatte uns ausführlich über seine Familienverhältnisse informiert. Wir wußten, daß er seine Frau beim Kölner Karneval kennengelernt hatte, eine asthmatische Tante besaß und donnerstags zum Kegeln ging. Auch Frau Dr. Müller-Meiningen hatte bereitwillig über ihre Jugendjahre geplaudert, obwohl wir eigentlich bezweifelten, daß es die jemals gegeben haben könnte. Nach unserer Ansicht war sie schon tweedumwickelt und mit Dutt auf die Welt gekommen. Trotzdem hatte sie uns – auf englisch natürlich – kleine biographische Histörchen erzählt, die sich ausnahmslos im Hochadel abspielten und nie eine Pointe hatten. Fräulein Ramburg reicherte die Geographiestunden hin und wieder mit Anekdoten aus der ärztlichen Praxis ihres Bruders an, mit dem sie zusammenlebte, und eine Zeitlang hatten wir sogar mit einem jungen Zeichenlehrer gelitten, der ein paar Wochen lang bei uns als Vertretung unterrichtet hatte und zum erstenmal Vater werden sollte.
Nur von Quasi wußten wir überhaupt nichts. Wir hatten lediglich herausgebracht, daß sie nicht verheiratet war, aber das schien sowieso das Schicksal unserer weiblichen Lehrkräfte zu sein. »Vielleicht hat sie einen Hausfreund?« mutmaßte Ilse.
»Den
möchte ich mal sehen. Zu ihr paßt doch allenfalls ein versponnener Privatgelehrter mit einem halben Dutzend Doktortiteln!«
So stieß Quasi auf uneingeschränkte Aufmerksamkeit, als sie sich eines Tages beiläufig erkundigte, ob jemand von uns in der Nähe der Sundgauer Straße wohne.
»Ja, ich!« erklärte Evchen sofort, obwohl das mitnichten der Wahrheit entsprach.
»Dann sei bitte so nett und bring mir im Laufe des Nachmittags die Hefte vorbei. Ich muß noch weg und möchte nicht die ganzen Sachen
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