Pellkartoffeln und Popcorn
Bemerkung tröstete mich jedoch nicht im geringsten. Trotzdem packte ich wieder meine Koffer. Frauke half und heulte. »Am liebsten würde ich mitfahren.« Sie drückte mir den Zettel in die Hand. »Hier ist meine Adresse. Besuch doch mal meine Mutter und frag sie, ob sie mich nicht auch hier rausholen kann. Vielleicht kannst du ihr erzählen, wie deine Mutter das gedreht hat.«
Frauke war es auch, die mich zusammen mit Pützchen am nächsten Mittag zum Bahnhof brachte. Diesmal mußte ich allein fahren. Allerdings nur bis Prag, dort sollte ich mich an die nächste Rote-Kreuz-Schwester wenden, die sich dann hoffentlich meiner annehmen würde. Das Zwischenlager in Prag sei mir ja ohnehin schon bekannt. Frauke zerdrückte noch ein paar Tränen, aber dann grinste sie mich an. »Auf Wiedersehen am grünen Strand der Spree. Und grüß den Funkturm von mir.«
»Wird gemacht«, versprach ich, »falls er noch steht.«
Prag, Bahnhof, Züge, Menschen in jeder Art von Uniform, und mittendrin ein zehnjähriges Mädchen mit zwei Koffern, einer Umhängetasche und dem festen Vorsatz, nicht zu heulen und somit zu beweisen, daß es schon groß ist. Ich zupfte eine Frau am Ärmel, die einen gestreiften Kittel trug und eine Armbinde, also mußte sie irgendeine amtliche Funktion ausüben. Sie habe Tee auszuteilen und keine Zeit, erklärte sie, und zum Beweis schwang sie eine große Blechkelle. Der Bahnbeamte, den ich ansprach, verstand mich gar nicht. »Deine Mutter kommt sicher gleich zurück«, versprach er munter und strich mir übers Haar. Dann verschwand er im Gewühl. Endlich entdeckte mich eine Rote- Kreuz-Schwester. Sie brachte mich zu einer anderen Rote-Kreuz-Schwester, und die übergab mich einer dritten Rote-Kreuz-Schwester, und irgendwann landete ich auf nicht mehr zu rekonstruierenden Wegen sogar an meinem Etappenziel.
Die Dame mit der Hakenkreuzbinde saß immer noch an ihrem Schreibtisch und sah aus, als hätte sie ihn nie verlassen. Das Kleid war auch noch dasselbe. Nein, Läuse hatte ich in der Zwischenzeit nicht bekommen, Krätze auch nicht, jawohl, mir war bekannt, daß ich auf den nächsten Transport warten mußte. Nein, ich würde selbstverständlich nicht ohne Erlaubnis das Haus verlassen, jawohl… nein… jawohl… dann durfte ich gehen. Diesmal kam ich ins Zimmer vier, das war völlig leer und blieb es auch bis zum Tag meiner Weiterreise. Offenbar war Jung-Deutschlands Völkerwanderung allmählich zum Stillstand gekommen.
Mitten in der Nacht wurde ich geweckt. Schlaftrunken stand ich auf, bereit, stehenden Fußes loszumarschieren, wohin auch immer man mich schicken würde. Vorausgesetzt, ich käme schließlich irgendwann nach Berlin. Bevor ich meinen Schlafanzug zusammenfaltete, durchsuchte ich ihn gründlich nach Wanzen. Omi bekäme todsicher einen Schlaganfall, wenn ich ein paar dieser niedlichen Tierchen mit nach Hause brächte.
Früher hatte ich nicht einmal gewußt, daß es Wanzen überhaupt gibt. Nach meiner ersten Nacht in Prag hatte ich die Quaddeln auf meiner Haut selbstverständlich als Mückenstiche angesehen – es schien sich allerdings um eine fremdländische und besonders leistungsfähige Abart dieser Spezies zu handeln – und mich nicht weiter darum gekümmert. Im Sommerlager waren wir ohnehin alle zerstochen. Mißtrauisch wurde ich erst, als Frauke am ersten Morgen nach unserer Rückkehr mit dem Atlas auf ihr Bettlaken einschlug und schimpfte: »Jetzt sind diese verflixten Biester schon wieder da. Ich denke, der Kammerjäger ist in der Zwischenzeit hiergewesen!«
Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich dann, daß es fast in jedem Haus Wanzen gäbe, es aber dem sonst bisher auf allen Gebieten doch recht erfolgreichen Vernichtungsfeldzug der deutschen Besatzer nicht gelungen war, dieses Ungeziefer auszurotten. Alle paar Monate machte der Kammerjäger seine Runde und versprühte irgendwelche Chemikalien, die zwar sämtliche menschlichen Bewohner zu vorübergehender Flucht veranlaßten, die Wanzen aber nicht! Sie versteckten sich eine Zeitlang; und dann waren sie wieder da, oft sogar zahlreicher als vorher. Zwangsläufig gewöhnte ich mich an das Zusammenleben mit den bis dato unbekannten Haustieren und behandelte die Stiche mit der in jedem Zimmer bereitgestellten Salbe, die zwar nichts nützte, aber wenigstens das Gewissen unserer Heimleitung beruhigte. Im übrigen kennen Wanzen offenbar keine Klassenunterschiede: einmal sah ich den Kammerjäger samt seinen Geräten auch aus der Privatvilla des
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