Pellkartoffeln und Popcorn
obersten Parteimenschen kommen! Von Prag hieß es im allgemeinen, daß es in dieser Stadt nicht einen Quadratmeter umbauter Fläche gäbe, auf der nicht mindestens ein halbes Dutzend Wanzen leben, und ausnahmsweise schien es sich bei dieser Behauptung um keine Übertreibung zu handeln. So holte ich auch prompt drei dieser Tierchen aus meiner Schlafanzugjacke, zerdrückte sie fachmännisch – gelernt ist gelernt! – und konnte nur hoffen, keine mehr übersehen zu haben. Omi würde… (siehe oben).
Diesmal waren wir nur zu viert, als wir morgens um zwei zum Bahnhof schlurften, angeführt von einer schwergewichtigen Matrone, die auf zuverlässigen Plattfüßen vor uns hermarschierte. Sie übergab uns einem durch Armbinde gekennzeichneten Mitglied der NS-Frauenschaft. Die Dame fühlte sich aber nicht zuständig und reichte uns an die Bahnhofsmission weiter. Dort erhielten wir Tee und die beruhigende Auskunft, daß der vor zwei Stunden in Richtung Deutschland abgefahrene Zug auf eine Mine gelaufen und in die Luft geflogen war.
So hockten wir bis zum Morgengrauen auf den klapprigen Gartenstühlen – außer einem Schreibtisch und einem Blechkübel mit Tee das einzige Inventar dieser anheimelnden Stätte – und warteten. Wir hatten uns gerade entschlossen, auf eigene Faust zu handeln und notfalls zu Fuß Richtung Berlin aufzubrechen, als uns dann doch ein uniformiertes Wesen abholte und in ein Zugabteil setzte. »Keiner rührt sich vom Fleck! Ab und zu wird jemand nach euch sehen; ansonsten befolgt ihr die Anweisungen des Bahnpersonals!«
Aha, diesmal hatten wir keinen persönlichen Wachhund mehr. Auch egal, schließlich waren wir alle ›Lagerkinder‹ und als solche daran gewöhnt, nicht mehr ständig bemuttert zu werden. Während der endlosen Reise, häufig unterbrochen von Fliegeralarm, schmiedeten wir Fluchtpläne. Nur ein Mädchen hatte einen Marschbefehl direkt nach Berlin, wir anderen würden weiterfahren müssen, nach Neustrelitz, nach Angermünde oder – wie ich – nach Eberswalde.
»In Berlin machen wir uns einfach dünne«, beschloß unser männlicher Beschützer, ein unternehmungslustiger Dreizehnjähriger, der sich seiner weiblichen Übermacht durchaus gewachsen fühlte. »Ick fahr doch nich nach Neustrelitz, bloß det mich mein Opa wieder von da abholt. Für die nächsten fuffzig Jahre bin ick nu jenuch Bahn jefahren!«
»Eigentlich hast du recht«, überlegte unsere ›Stubenälteste‹, eine Fünfzehnjährige aus Charlottenburg, »in Berlin ist sowieso erst mal Endstation. Irgendwie können wir da bestimmt abhauen.«
»Und das Gepäck?« In den Gepäcknetzen türmten sich Rucksäcke, Taschen und Koffer bis an die Decke.
»Det jeben wir zur Aufbewahrung«, entschied Harald.
»Aber wir können das ganze Zeug doch nicht alleine schleppen.«
»Det deichsle ick schon«, versprach unser Wortführer, »aber wir müssen uff alle Fälle zusammenbleiben, nich, det so ne Rote-Kreuz-Tante kommt und eenen von uns abschleppt!«
Wir sicherten ihm Gefolgschaftstreue zu.
Nach anderthalb Tagen, viermaligem Umsteigen und ungezählten Aufenthalten fuhren wir endlich durch die Vororte Berlins, oder durch das, was einmal die Vororte Berlins gewesen waren.
»Meine Fresse!« staunte Harald, »ick möchte bloß mal wissen, warum die überhaupt noch Bomben schmeißen, da is doch sowieso schon allet kaputt. Is doch reine Materialverschwendung!«
Eine Schwester betrat das Abteil. »Na, alles in Ordnung? Jetzt haben wir es ja gleich geschafft. Ihr bleibt am besten erst mal hier sitzen, bis ich mich erkundigt habe, wie es weitergeht.«
»Wir können ja schon mal anfangen, det Jepäck uffn Bahnsteig zu wuchten, denn jehts nachher schneller«, erbot sich Harald diensteifrig, was ihm ein zustimmendes Lächeln eintrug.
»Wir sind ja schon da! Ich sehe die Gedächtniskirche!« rief Annette und zeigte aus dem Fenster. Was sie sah, war eine schwärzliche Ruine und nur noch von Ortskundigen als das traditionsbeladene Bauwerk zu identifizieren.
»Nu mal runter mit dem Krempel«, befahl Harald und fing an, die Gepäcknetze auszuräumen. Als der Zug endlich hielt, waren wir marschbereit, und fünf Minuten später hatten wir unsere ganzen Habseligkeiten auf dem Bahnsteig übereinandergetürmt. »Annette, du kommst mit, vielleicht brauche ick Verstärkung. Ihr anderen bleibt beim Jepäck. Wenn die Schwester kommt und duslige Fragen stellt, dann sagt ihr ebent, wir beede sind austreten jejangen.«
»Wenn das nur gutgeht«,
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