Pellkartoffeln und Popcorn
hin. Ulli spielte Mundharmonika. Sie konnte sechs Lieder, das siebente nur halb, den Schluß davon probierte sie seit Wochen. »Sei froh, daß Balduin schon weg ist«, meinte Frauke freundlich, »der würde dich jetzt beißen!« Ulli ging in die zweite Klasse und war Fraukes Intimfeindin.
»Sucht eure Sachen zusammen, wir müssen gleich umsteigen«, mahnte das ›Huhn‹, obwohl wir noch mindestens zehn Minuten Zeit hatten. Plötzlich kreischten Bremsen, der Zug hielt auf freier Strecke.
»Was’n nu los?« Hannelore wollte sich ans Fenster drängeln.
»Alles sitzenbleiben!« kommandierte Pützchen, »ich werde mich erkundigen.«
»Pardubitz wird bombardiert!« erklärte ein Mitreisender, »man kann es sogar sehen.«
Und nun hingen wir doch alle aus den Fenstern. In der Ferne sah man vereinzelte Rauchwolken. Dann hörten wir eine heftige Detonation, die sogar die Abteilfenster klirren ließ. Ein riesiger schwarzer Rauchpilz entwickelte sich dort, wo Pardubitz liegen mußte. »Zehn Minuten später, und wir wären mittendringewesen«, murmelte das ›Huhn‹ leichenblaß; plötzlich war sie der deutschen Sprache mächtig.
Nach einer Weile hörten wir ein leises Brummen, das langsam näherkam. »Aha, sie fliegen ab«, konstatierte der Zivilist und beobachtete fachkundig den Himmel. Dann brüllte er los: »Die fliegen nicht ab, die kommen runter! Raus hier!«
Wir taumelten aus den Türen. »Rüber zum Wald!« kommandierte Pützchen. Der Wald bestand aus ein paar Buchen und etwas Unterholz. Außerdem war er etwa dreihundert Meter entfernt. Wir stolperten quer über das dazwischenliegende Stoppelfeld, in den Ohren das immer lauter werdende Pfeifen der Flugzeuge. Vereinzelte Schüsse fielen. Schließlich erreichten wir das Wäldchen und warfen uns ins Gestrüpp. Ich landete genau zwischen den Brennesseln.
»Zieht die Blusen aus!« schrie Pützchen, »die leuchten meterweit!«
Brennesseln mit Bluse waren schon schlimm genug, Brennesseln ohne Bluse… nein danke. Ich kroch lieber unter eine Tanne und zog mir den verständlichen Ärger eines Ameisenbataillons zu, das ich bei der Brutpflege gestört hatte. Erneuter Standortwechsel, dann hing ich mit dem Fuß in einem verrosteten Marmeladeneimer und flog der Länge nach hin!
»Liegenbleiben, du Idiot!« zischte jemand, »du bist doch hier nicht in einem Wanderzirkus!« Die Tiefflieger hatten inzwischen den Wald erreicht und schossen. Äste krachten herunter, ein paar Querschläger summten, dann drehten die Maschinen ab und verschwanden.
»Am Waldrand sammeln!« rief Pützchen. Sie musterte uns, wie wir in den verschiedenen Stadien der Auflösung aus dem Unterholz krochen. »Seid ihr alle in Ordnung?« Außer ein paar Schrammen hatte niemand etwas abgekriegt, nur an meinem Bein hing noch immer der Marmeladeneimer.
»Wo ist Ulrike?« Ulli war verschwunden. Wir kämmten das Wäldchen durch. Vergebens.
»Im Zug saß sie neben mir, mehr weiß ich nicht.«
Aber auch Ulrike tauchte wieder auf. Sie hatte den Zug auf der verkehrten Seite verlassen und sich in einem Rübenacker wiedergefunden. »Da habe ich mich einfach zwischen das Grünzeug geschmissen!« Auf dem Rückweg war sie dann allerdings in nähere Berührung mit einem größeren Feldstein gekommen, und nun hinkte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht durch das Abteil. Das ›Huhn‹ verlangte die Reiseapotheke, wurde daran erinnert, daß sich der Blechkasten bei dem vorausgeschickten Gepäck befand und improvisierte einen Notverband aus Rübenblättern. »Die kühlen auch, und in Pardubitz bringen wir dich sofort in die Rote Kreuz-Station.«
Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis wir in den Bahnhof einfahren konnten. Er war schwer beschädigt und verfügte nur noch über
eine
intakte Gleisanlage. Wir saßen ein paar Stunden fest, bevor wir in einen Autobus verladen und nach Bad Podiebrad gebracht wurden. Vorher hatte man uns in einer improvisierten Verpflegungsstelle mit Margarinebroten und einer kakaoähnlichen Flüssigkeit abgefüttert. Zum Nachtisch erhielten wir einen wortreichen Bericht dessen, was sich vorhin hier auf dem Bahnhof abgespielt hatte. Ehe wir eingefahren waren, hatte ein Güterzug mit Tankwagen auf seine Weiterfahrt gewartet, weil die bei einem Bombenangriff zerschlagenen Schienen notdürftig repariert werden mußten. Ein auf dem Nebengleis eingelaufener Personenzug mit Soldaten konnte auch nicht weiterfahren. Beim zweiten Angriff war der Tankzug in die Luft geflogen, und von dem Personenzug
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