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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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Kartoffeln ›hinten- herum‹ und ernährten uns abends von Pellkartoffeln und Hering. Auf diese Weise konnten wir Brot sparen, das sowieso nie reichte.
    Entsprechend spartanisch feierten wir auch das letzte Kriegsweihnachten. Tante Else hatte Kekse gebacken, die überwiegend aus Roggenmehl und Süßstoff bestanden, wie Hundekuchen aussahen und genauso hart waren. Wenn ich da an die geleegefüllten Köstlichkeiten von Frau Wiemer dachte, an denen ich mir noch vor einem Jahr den Magen verdorben hatte… Egal, ich war wenigstens zu Hause! Und ich bekam sogar Geschenke. Mami hatte durch irgendwelche dunklen Kanäle ein Paar Halbschuhe aufgetrieben, die mir zwei Nummern zu groß waren, aber »besser als umgekehrt!« wie Tante Else erklärte und eine dicke Sohle aus zusammengeklebtem Zeitungspapier hineinlegte.
    Von Omi bekam ich einen goldenen Ring mit einem kleinen Saphir, Bestandteil ihrer ›Juwelensammlung‹, der er nach dem Fest auch wieder einverleibt wurde. Ich erhielt ihn nur zu besonderen Gelegenheiten ausgehändigt, und wenn ich ihn auf den Mittelfinger setzte, rutschte er bloß ein kleines bißchen. Frau Jäger Nr. eins war schließlich auch nur 1,63 m groß gewesen.
    Tante Else hatte mir aus den noch verwendungsfähigen Resten von Mamis kariertem Sommerkleid eine Bluse genäht. Der Stoff hatte jedoch nicht gereicht, und so hatte sie dort, wo die Bluse sonst im Rock verschwindet, etwas Himmelblaues angestückelt. Wenn das gute Stück auf dem Bügel hing, hatte es eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Clownskostüm.
    Auch die Alliierten bescherten uns ein Weihnachtsgeschenk! Sie verschonten uns am Heiligen Abend und am ersten Feiertag mit Luftangriffen und kamen erst am zweiten wieder, den man in Amerika bekanntlich ja nicht mehr feierte. Dafür verlebten wir den Jahreswechsel im Keller, stießen um Mitternacht mit chemikalischem Glühwein auf ein hoffentlich friedenbringendes 1945 an und schlossen Wetten darüber ab, ob uns wohl die Russen oder die Amerikaner zuerst ›befreien‹ würden. Die Chancen standen 50 : 50, obwohl meine Mutter den Amis in strategischer Hinsicht mehr zutraute.
    Ein paar Wochen später sah es allerdings wieder so aus, als würden die Russen zuerst in Berlin sein. »Also, wenn ich ehrlich bin, dann wären mir die Amis entschieden lieber«, konstatierte Mami, während sie mit einem Lineal über dem Atlas brütete und den Frontverlauf studierte, »ganz abgesehen davon, daß ich mich mit denen wenigstens verständigen könnte. Aber im Augenblick sind die Russen neunzehn Millimeter näher dran.«
    »Geh den Amis doch entgegen«, meinte Tante Else gleichmütig, ohne im geringsten zu ahnen, auf welche Idee sie meine Mutter gebracht hatte.
    »Ihr werdet lachen, das mache ich!« eröffnete Mami am Abendbrottisch und spießte die vorletzte Pellkartoffel auf die Gabel. Neue würde es (hoffentlich) erst in der kommenden Woche wieder geben.
    »Was machst du?« fragte Onkel.
    »Den Amis entgegenfahren.«
    »???«
    »Tante Lotte hat schon wieder geschrieben, daß wir nach Wolfenbüttel kommen sollen. Sie haben dort noch ausreichend zu essen, und mit den Luftangriffen ist es angeblich auch nicht so schlimm wie hier.« Omi war sofort Feuer und Flamme, hatte sie doch schon immer gesagt, daß wir bei ihrer Kusine am besten aufgehoben sein würden. Ich sträubte mich nun auch nicht mehr, denn mit Mami zusammen wäre ich überallhin gegangen. Und so waren wir drei Tage später in Wolfenbüttel. Tante Lotte drückte mir einen sabbernden Kuß auf den Mund, den ich mir nicht mal abwischen konnte, weil sie mich dauernd ansah und sich dabei wunderte, wie groß ich geworden war, bis sie uns endlich eröffnete, welche Vorbereitungen sie für unser künftiges Wohl getroffen hatte. »Hier könnt ihr ja nu nich bleiben; ich bin bis unters Dach einquartiert worden. Aber die Brunhilde freut sich man schon mächtig, daß ihr kommt. Und die Kinder erst…«
    Die Kinder waren zwei und vier Jahre alt, hießen Hasso und Harro – beide Namen waren mir bisher nur im Zusammenhang mit Hunden geläufig –, und ihre Mutter entpuppte sich als resolute Dame mit Mittelscheitel, Dutt und sehr präzisen Vorstellungen vom Krieg im allgemeinen und vom Endsieg im besonderen. Seit ihrer Hochzeit vor sechs Jahren mit dem ehemaligen und derzeit vaterlandsverteidigenden Dorfschullehrer lebte sie in Wiltmar, einem kleinen Nest in der Nähe von Wolfenbüttel, war Mitglied aller einschlägigen Organisationen und Vorsitzende der örtlichen

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