Pellkartoffeln und Popcorn
Hausaufgaben eingedeckt waren, zogen wir bibbernd wieder nach Hause. Ab und zu stifteten die Amerikaner auch mal einige Zentner Kohlen, dann zog durch sämtliche Klassenzimmer ein Hauch von Wärme, und wir hatten sogar eine Woche lang regelmäßig Unterricht.
Das änderte sich erst im Frühjahr. Da war es zwar immer noch kalt, aber wir waren inzwischen so abgehärtet, daß wir eine Zimmertemperatur von 10 bis 12 Grad als durchaus akzeptabel empfanden – und wir uns längst daran gewöhnt hatten, mit Mantel und Schal in geschlossenen Räumen zu sitzen. Gelobt sei, was hart macht! Diesen Spruch kannten wir noch aus dem Tausendjährigen Reich, hatten ihn bei verschiedenen Gelegenheiten in die Tat umsetzen müssen und entdeckten erst jetzt seine Berechtigung.
Jedenfalls hatten wir nun wieder normalen und geregelten Schulunterricht, oder zumindest das, was man damals darunter verstand.
Lehrbücher gab es nicht. Die etwa noch vorhandenen waren nazistisch verseucht und deshalb verboten. Ich weiß zwar nicht, inwieweit dies beispielsweise auf die Mathebücher zutraf, aber vielleicht errechnete man während des Dritten Reiches die Kubikmeterzahl von Unterseebooten und Luftschutzkellern, während man heute das Volumen von Scheunen und Fabrikhallen ausrechnen muß. (Lediglich unsere Biologiebücher durften wir behalten, vermutlich deshalb, weil sich die Zellteilung bei Ringelwürmern auch nach dem Krieg noch genauso abspielte wie vorher und wohl auch nicht politisch zu beeinflussen war.) Jedenfalls hatten wir keine alten Bücher mehr, und neue wurden noch nicht gedruckt. Die Herstellung von seitenlangen Fragebögen zum Zwecke der Entnazifizierung sowie die Vervielfältigung von ständig neuen Beschlüssen des Alliierten Kontrollrats waren offenbar wichtiger.
Also behalf man sich, so gut es eben ging, und da es noch kein Unterrichtsministerium und folglich auch noch keine einheitlichen Richtlinien gab, waren die Lehrer mehr oder weniger auf sich gestellt. Sie erfuhren nur, was sie nicht unterrichten durften. Und das war zunächst einmal Geschichte! Das laufende Jahrhundert war ohnehin tabu. Aber nun hatte es bereits in früheren Zeiten Kriege gegeben, aus denen Deutschland oder doch wenigstens Teile desselben als Sieger hervorgegangen waren. Diese unleugbare Tatsache ließ sich mit dem gegenwärtigen Zustand nicht in Einklang bringen, außerdem sollten wir wohl nicht an glorreiche Zeiten erinnert werden… Also ließ man den Geschichtsunterricht fürs erste lieber ganz fallen. Als er dann endlich wieder in den Lehrplan aufgenommen wurde, begannen wir mit der Steinzeit. Die lag erstens lange zurück und war zweitens garantiert unpolitisch.
Statt Geschichte hatten wir ›Gegenwartskunde‹. Wir lernten, was Demokratie bedeutet, bekamen hektographierte Zettel mit bildlichen Darstellungen der verschiedenen Regierungsformen und paukten uns die Unterschiede zwischen dem amerikanischen Repräsentantenhaus, der französischen Nationalversammlung und dem englischen Unterhaus ein. Begriffen haben wir sie nie.
Im Deutschunterricht lasen wir Balladen. Goethe und Schiller hatte so ziemlich jeder im häuslichen Bücherschrank stehen, außerdem waren deutsche Klassiker auch unseren Siegermächten zumindest namentlich bekannt. Also lasen wir vom Taucher bis zum Erlkönig nahezu alles, was als literarisch bedeutsam und als Bildungslücke gilt, wenn man es nicht kennt. Hatten wir die Balladen gelesen und besprochen, mußten wir sie auswendig lernen. Das brachte einmal unser ohnehin schon etwas eingerostetes Gedächtnis auf Touren, zum anderen sparte es Papier, weil es sich ja um mündliche Hausaufgaben handelte.
Papier war Mangelware, streng rationiert und trotzdem nie zu kriegen. Ich habe keine Ahnung mehr, wie viele Hefte einem pro Monat zustanden, jedenfalls brauchten wir zum Erwerb eines solchen eine von der Schule abgestempelte und unterschriebene Anforderung sowie eine alte Zeitung. Beides hatte man im Papiergeschäft abzugeben, und dann bekam man doch kein Heft, weil sie schon wieder alle waren.
Wir schrieben Übersetzungen auf Zeitungsränder und zerrissene Einkaufstüten, errechneten mathematische Gleichungen auf alten Telefonbüchern, bevor wir die Resultate in das kostbare Heft eintrugen, und hüteten jeden Fetzen unbeschriebenen Papiers wie einen Kronschatz. Fein heraus waren jene Kinder, deren Väter bei Behörden oder gar bei den Amis im Büro arbeiteten. Die konnten schon hin und wieder ein bißchen Schreibmaterial
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