Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
Cornelias Worte in ihm wider. »Antoine? Man hat mir gesagt, er sei nach Norden gezogen, nach New York City. Ist ein Yankee geworden.«
Ja, sein Urgroßonkel Antoine war nach New York gezogen. Aber er hatte sich, wie alle Pendergasts, nie ganz von seinen Wurzeln lossagen können. Darum lag ihm so viel daran, das Haus am Riverside Drive zu einem Abbild des Maison de la Rochenoire zu gestalten, wobei er gewisse Kompromisse machen musste, aber nie das Ziel aus den Augen verlor, seine Sammlung hier unterzubringen – und vor allem seine Experimente fortsetzen zu können. Pendergast konnte das gut nachempfinden, war er doch selbst von einem ähnlichen Wunschgetrieben worden, als er in seiner Vorstellung das urgroßväterliche Haus an der Dauphine Street in altem Glanz auferstehen ließ, um es zum Hort seiner Erinnerungen zu machen.
Nun gut, das war geklärt … nur, er verspürte dennoch weiter die rätselhafte innere Unruhe, die ihn nun schon eine geraume Weile quälte. Es war ihm, als müssten ihm jeden Augenblick die Augen aufgehen, doch sooft er glaubte, der Lösung des Rätsels ganz nahe gekommen zu sein, verschwamm alles im Nebel.
Sein Blick schweifte über die Sammlung. Antoine hatte viel Zeit gehabt, das Kuriositätenkabinett aufzubauen – mehr Zeit, als Menschen normalerweise gegeben ist. Dennoch wurde Pendergast das Gefühl nicht los, dass etwas in der Sammlung fehlte. Und plötzlich wusste er es: Es war das Herzstück, das der Sammlung fehlte: Die Formel, die Antoine von Jugend an mehr als alles andere fasziniert hatte. Pendergast stockte vor Verblüffung der Atem. Antoine alias Leng hatte anderthalb Jahrhunderte danach gestrebt, der Sammlung eines Tages dieses Juwel menschlichen Erfindergeistes hinzufügen zu können.
Warum war Pendergast noch nicht darauf gestoßen? Es musste hier sein – hier in diesem alten Haus. Aber wo?
Ein Laut aus der realen Welt zerriss jäh den Kokon, den Pendergast um sich gesponnen hatte: ein halb erstickter Schrei. Hastig versuchte er, wieder in das Dunkel seiner meditativen Welt einzutauchen, denn nur in ihr war er so gegen die Realität abgeschottet, dass er sich wirklich konzentrieren konnte. Minute um Minute verrann, und als er den Kokon endlich wieder gesponnen hatte, war er im Geiste in die Bibliothek in der Dauphine Street zurückgekehrt.
Von einer unerklärlichen Ahnung geleitet, suchte er die Buchreihen ab, bis er den Folianten gefunden hatte, der, sobald man ihn herausnahm, die Bücherwand aufschwingen ließ. Hinter ihr verbarg sich, wie Pendergast vermutet hatte,ein Lastenaufzug. Er zwängte sich – jeden Schritt vorsichtig abwägend – in das enge Geviert und ließ sich nach unten tragen.
Der ehemalige Klosterkeller war feucht und klamm, auf den Wänden hatte sich Schimmel gebildet. Ein gemauerter, vom Ruß ungezählter Kerzen geschwärzter Gang führte vorbei an zahllosen Abzweigungen zu einem kleinen Kellerraum mit Deckengewölbe. Der Raum war leer, an der aus Ziegelsteinen gefügten Wand hing ein geschnitztes Wappen mit einem lidlosen Auge, unter dem zwei Monde schwebten, der eine als Sichel, der andere voll und rund, darunter kauerte ein Löwe. Es war das Wappen der Pendergasts, das er – von Antoine nach dessen wirren Vorstellungen abgewandelt – vorhin an der Fassade des Hauses gesehen hatte, über dem Eingangsbereich.
Er trat näher an die Wand heran und blieb einen Augenblick lang suchend unter dem Wappen stehen. Dann legte er beide Hände auf das kalte Mauerwerk und drückte mit einem jähen, kräftigen Ruck dagegen. Die Mauer schwang augenblicklich auf und gab den Blick auf eine Wendeltreppe frei, die in scharfen Windungen in den tieferen Kellerbereich führte.
Der kalte Luftschwall, der ihn anwehte, erinnerte ihn unwillkürlich an den eisigen Atem der Toten, die dort unten ruhten. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er – vor vielen Jahren – in die Geheimnisse der Familie eingeführt worden war: den verborgenen Lastenaufzug in der Bibliothek, die Steinkammern, die sich darunter erstreckten … und schließlich in das größte Geheimnis der Pendergasts, das am Fuß der Wendeltreppe auf ihn wartete.
In dem Haus in der Dauphine Street hatte die Treppe im Dunkel gelegen, man brauchte eine Laterne, wenn man hinabsteigen wollte. Aber jetzt, bei seiner imaginären Wanderung durch das Haus, drang ein grünlicher Lichtschimmer von unten zu ihm herauf, sodass er jede einzelne Stufe ausmachen konnte.
Er stieg sie langsam hinunter,
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