Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
hineingegangen, um wenigstens einen Blick auf all die Dinge zu werfen, die ihn durch seine Jugend begleitet hatten. Aber heute durfte er sich dafür keine Zeit nehmen, heute galt es, Antworten auf viele ungeklärte Fragen zu finden.
Er hatte Nora eingestanden, dass er von Anfang an nicht mit der nötigen Distanz an den Fall herangegangen sei – ein Fehler, der sie beide in ihre missliche Lage gebracht und, wie er sich tief betrübt vorwarf, O’Shaugnessys grausiges Schicksal besiegelt hatte. Was er Nora gegenüber nicht erwähnt hatte, war der tiefe Schock, den der Anblick des Toten in dem verglasten Käfig in ihm ausgelöst hatte. Inzwischen sträubte er sich nicht mehr gegen die Wahrheit: Der Tote war Enoch Leng oder, um es ohne Ausflüchte zu bekennen, sein Urgroßonkel Antoine Leng Pendergast, der die abstrusen Träume seiner Jugend wahr gemacht und die ihm zugedachte Spanne seines Lebens verlängert hatte.
Die noch lebenden Familienmitglieder – zumindest die, die nicht vom Familienfluch des Wahnsinns gestraft waren – gingen davon aus, dass Antoine schon vor etlichen Zeiten gestorben sei, vermutlich in New York, wo sich seine Spur um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verlor. Und zum Verdruss der Erbberechtigten war mit ihm auch ein nicht unerheblicher Teil des Familienvermögens spurlos verschwunden.
Aber Pendergast war bereits vor Jahren, während der Ermittlungen im Fall des U-Bahn-Massakers, dank seiner freundschaftlichen Beziehung zu Wren, der sich wie kein anderer in den Archiven der Bibliothek auskannte, auf alte Zeitungsartikel gestoßen, in denen von einer männlichen Leiche berichtetwurde, die man aus dem East River gefischt habe. Der Tote wies alle Merkmale eines diabolischen chirurgischen Eingriffs auf, da es sich jedoch um einen Obdachlosen handelte, wurde das Verbrechen nie aufgeklärt. Gewisse unschöne Begleiterscheinungen und der Umstand, dass das Ganze etwa mit der Zeit zusammenfiel, zu der Antoine vermutlich in New York sesshaft geworden war, weckten in Pendergast den Verdacht, dass Antoine etwas damit zu tun haben könne. Und als er bei der Lektüre späterer Zeitungsartikel etwa ein halbes Dutzend ähnlicher Verbrechen entdeckte – eine regelrechte Serie, die erst im Jahr 1935 abrupt endete –, bestärkte ihn das in der Vermutung, seinem Urgroßonkel Antoine könne es womöglich gelungen sein, sich seinen Jugendtraum von der Unsterblichkeit zu erfüllen.
In Pendergasts Augen blieb nur eine Frage offen: War Antoine 1935 gestorben oder hatte er die Formel des ewigen Lebens gefunden, die es ihm möglich machte, weiterzuleben – und zwar, ohne neuerliche Verbrechen zu begehen? Die Theorie von seinem Ableben schien die wahrscheinlichste zu sein, dennoch blieben Zweifel. Antoine Leng Pendergast hatte sich zeit seines Lebens zu allem Übersinnlichen hingezogen gefühlt, gepaart mit transzendentalen Wahnvorstellungen.
Also hatte Pendergast Ausschau nach Indizien gehalten und darauf gewartet, irgendwann schlüssige Antworten auf seine Fragen zu finden; als letzter männlicher Spross seiner Familie hielt er das für seine Pflicht. Als er später von den Leichenfunden an der Catherine Street erfuhr, erwachte sofort der alte Verdacht in ihm – samt der Ahnung, wer für die Morde verantwortlich sein könnte. Und als der Mord an Doreen Hollander entdeckt wurde, wusste er, dass seine schlimmste Befürchtung wahr geworden war: Antoine Pendergast lebte und jagte weiter dem Traum von der ewigen Jugend nach.
Aber jetzt war alles anders geworden, Antoine war tot. Es gab keinen Zweifel daran, dass es sich bei der mumifizierten Leiche in dem verglasten Käfig um die sterblichen Überrestejenes Mannes handelte, der in jungen Jahren in den Norden gegangen war und dort unter dem Namen Enoch Leng gelebt hatte. Pendergast war mit der Hoffnung in das Haus am Riverside Drive eingedrungen, seinen Urgroßonkel zur Rede stellen zu können. Stattdessen hatte er ihn gefoltert und ermordet vorgefunden. Irgendjemandem musste es irgendwie gelungen sein, Antoine zu beseitigen und sein grausiges Werk fortzusetzen.
Wer war der Mörder des Mannes, der sich zu Lebzeiten Enoch Leng genannt hatte? Oder anders gefragt: Wer war der Mann, der ihn und Nora Kelly in einem feuchten Kellergewölbe gefangen hielt? Der Zustand von Antoines Leiche legte den Schluss nahe, dass er erst vor kurzem gestorben war, der Mord lag mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht länger als zwei Monate zurück. Und wenn es so war, musste Enoch
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