Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
Zeit knapp wurde, sehr knapp. Er war schwer verwundet, hatte keine Waffe, und die Blutung wurde schlimmer. Seine einzige Chance bestand darin, rechtzeitig hinter das Geheimnis von Lengs ultimativem Projekt zu kommen. Wenn er herausfand,
warum
Leng so darauf aus gewesen war, sein Leben zu verlängern, besaß er ein Pfand, das er gegen Fairhaven ausspielen konnte.
Wieder nahm er kurz die Haube von der Laterne und suchte die vor ihm liegende Kammer ab. Gläser mit getrockneten Insekten. Auf einem der Schildchen las er
Pseudopena velenatus –
die lateinische Bezeichnung für den leicht giftigen, in den Mato-Grosso-Sümpfen heimischen Falschen Flaumfederkäfer, den die Eingeborenen zur Herstellung von Medizin verwendeten. Ein Regal tiefer entdeckte er in einem Glas die getrockneten Rümpfe hoch giftiger ugandischer Sumpfspinnen. Offenbar enthielten alle Gläser in dieser Kammer getrocknete Tiere: Eidechsen, mehrere Geckos einer Spezies aus Costa Rica, die Speichelflüssigkeit von Gilamonstern aus der Sonorawüste – und so ging es Regal um Regal weiter. Pendergast deckte die Laterne ab, stand im Dunkel und dachte nach. Leng hatte all diese Tiere bestimmt nicht zur Artenbestimmung gesammelt, dafür hätte er jeweils nur ein Exemplar gebraucht, ganz davon abgesehen, dass getrocknete Tiere für die Bestimmung biologischer Merkmale unter dem Mikroskop ohnehin keine idealen Objekte sind.
Es gab nur eine Antwort: Leng hatte sie wegen ihrer komplexen chemischen Bestandteile gesammelt. Er war – vermutlich zur Ergänzung seiner Sammlung anorganischer chemischerProben – auf der Suche nach rein natürlichen, biologisch aktiven Wirkstoffen gewesen.
Pendergast war davon überzeugt, dass das, was hier unten in ungezählten Flaschen und Krügen lagerte, etwas mit Lengs letztem Studienobjekt zu tun haben musste. Und er hatte sich nicht mit dem Sammeln begnügt, sondern auch mit den Substanzen gearbeitet. Viele Flaschen waren nur noch halb voll, einige sogar fast leer. Diese Gewölbe waren Antoine Leng Pendergasts letzter Arbeitsplatz gewesen. Aber
woran
hatte er gearbeitet? Welches Ziel hatte er mit seinem ultimativen Projekt verfolgt?
Jäher Schmerz durchzuckte ihn, es fehlte nicht viel, und er wäre auf die Knie gegangen. Nur sein eiserner Wille machte es ihm möglich, sich weiterzuschleppen. Er durfte jetzt nicht aufgeben, er spürte, dass er der Lösung ganz nahe war.
Und plötzlich fiel ihm seine Großtante ein. Tante Cornelia hatte ihm erzählt, dass Leng kurz vor seiner Abreise nach Norden von der Idee gesprochen hatte, die Menschheit retten zu wollen.
Heilen
, hatte Tante Cornelia gesagt. Das war Lengs großes Ziel gewesen: die Menschheit heilen.
Pendergast ahnte, dass er, wenn er weiter Kammer für Kammer absuchte, nur Lengs Mittel zum Zweck entdecken konnte, das Ergebnis musste er woanders suchen. Eine neuer Schmerzanfall zwang ihn, stehen zu bleiben. Und während er darauf wartete, dass der wühlende Schmerz verebbte, machte er vage die Umrisse eines mit Gobelins verhängten Torbogens aus, der anscheinend aus dem Labyrinth der Kammern hinausführte. Er wollte darauf zugehen, merkte aber, dass er sich vor Schmerzen kaum noch bewegen konnte.
Wertvolle Sekunden verrannen. Er nutzte die Zeit, um sich den Moment in Erinnerung zu rufen, in dem Fairhaven ihn angeschossen hatte. Im Geiste durchlebte er die Szene noch einmal.
Bei dem Trick mit der verborgenen Wandtür, mit dem er Fairhaven überlisten wollte, war es auf perfektes Timing angekommen.Darum hatte er, während sie sich nur wenige Schritte voneinander entfernt gegenüberstanden, aufmerksam Fairhavens Miene studiert. Nahezu immer verriet das Mienenspiel eines Kontrahenten, ob er bereit war abzudrücken oder den Augenblick noch eine Weile hinauszögern wollte. Aber in Fairhavens reglosem Gesicht hatte er kein Warnzeichen lesen können. Pendergast war verblüfft gewesen, mit welcher Kaltblütigkeit der Mann einfach den Zeigefinger um den Abzug gekrümmt hatte. Wenn es nicht den Bruchteil einer Sekunde gegeben hätte, in dem Fairhaven den Atem anhielt, wäre Pendergast unausweichlich von der Kugel aus seinem eigenen Colt getötet worden.
So aber war ihm Zeit geblieben, sich seitlich wegzudrehen. Das Geschoss hatte den linken Brustkorb gestreift und war in die Bauchhöhle eingedrungen. Pendergast versuchte, die Konsequenzen so nüchtern wie möglich abzuschätzen: Im günstigsten Fall ein Milzriss, im ungünstigsten war der Grimmdarm zerfetzt. Zum Glück hatte das
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