Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
Geschoss die Bauchschlagader verfehlt, sonst wäre er verblutet. Aber es musste eine Vene gestreift haben, anders ließ sich der hohe Blutverlust nicht erklären, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit innerhalb weniger Stunden zum Tode führte, wenn die Wunde nicht versorgt und die Blutung gestillt wurde. Er spürte deutlich, dass seine Kräfte schon nachließen.
Pendergast machte sich – nicht zum ersten Mal – bittere Vorwürfe, dass er die Situation derart falsch eingeschätzt und einen Fehler nach dem anderen begangen hatte. Ihm war zwar von Anfang an klar gewesen, dass das sein schwierigster Fall wurde, aber er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass die Ermittlungen ihn emotional so belasten würden. Statt die Fakten nüchtern zu beurteilen, hatte er sich ein geschöntes Bild zurechtgebastelt, und nun sah er sich zum ersten Mal mit der Möglichkeit – nein, sogar mit der Wahrscheinlichkeit – konfrontiert zu scheitern. Und wenn es so kam, bedeutete dasnicht nur seinen Tod, sondern auch den von Nora, Smithback und Gott weiß wie vielen künftigen Opfern.
Er tastete mit der Hand nach der Wunde. Die Blutung wurde immer stärker. Er zog das Jackett aus, schlang es sich um den Unterleib und knotete es so fest wie möglich zu. Nach kurzem Zögern ging er das Risiko ein, für ein paar Sekunden die Haube von der Grubenleuchte zu nehmen, damit er sich in der Kammer, in die er sich geschleppt hatte, orientieren konnte.
Im Schein der Laterne sah er verblüfft, dass sie keine Flaschen enthielt, sondern Schachteln mit ausgestopften, in Baumwolle gebetteten Vögeln. Zugvögel, nach Familien geordnet, sogar einige Exemplare der bereits ausgestorbenen Spezies der Wandertauben waren dabei. Zunächst konnte er sich keinen Reim darauf machen, die Sammlung fiel völlig aus dem Rahmen. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass sogar diese ausgestopften Vögel etwas mit Lengs Suche nach der ultimativen Erkenntnis zu tun hatten. Nur, welche Erkenntnis sollte das sein?
Er schleppte sich stolpernd in die nächste Kammer, immer darauf bedacht, die Wunde so wenig wie möglich zu belasten. Wieder hob er die Haube von der Laterne, und diesmal war seine Verblüffung noch größer. Das allem Anschein nach willkürliche Sammelsurium von Kleidungsstücken und Accessoires aus zwei Jahrtausenden und aller Herren Länder, zum Teil auf Schaufensterpuppen drapiert, konnte er sich nun überhaupt nicht mehr erklären. Kleider nach der Pariser Mode des neunzehnten Jahrhunderts, Glacéhandschuhe, Ringe, Schmuckketten, eine mittelalterlich anmutende Halskrause, Regen- und Sonnenschirme … darauf konnte er sich beim besten Willen keinen Reim machen.
Er stülpte die Haube über die Laterne und lauschte angestrengt ins Dunkel. Nichts, nur das immer schneller tröpfelnde eigene Blut. Einen Augenblick lang beschlich ihn der Verdacht, dass Leng womöglich auf seine alten Tage denVerstand verloren hatte. Vielleicht hatte ihm die Formel für die Verlängerung des Lebens körperliche Rüstigkeit beschert, aber zugleich den Verstand vernebelt?
Doch dann schüttelte er den Kopf. Er lief schon wieder Gefahr, emotional zu reagieren und sich von der Mär des unausweichlichen Familienerbes beeinflussen zu lassen. Leng war nicht verrückt geworden. Verrückte sind nicht in der Lage, eine so große, systematisch geordnete Sammlung von organischen und anorganischen Chemikalien zusammenzutragen. Das Ganze musste einen Sinn haben – nur welchen? Wie auch immer, er
musste
herausfinden, was Leng damit bezweckt hatte, sonst …
Plötzlich hörte er eine Schuhsohle über den Steinboden schrammen, nahezu im selben Augenblick wurde der Lichtstrahl einer Taschenlampe auf ihn gerichtet, und einen Atemzug später tanzte ein winziger roter Punkt auf seiner Hemdbrust. Er konnte sich gerade noch seitlich wegducken, als auch schon der Schuss fiel. Der Lärm hallte unnatürlich laut in der engen kleinen Kammer wider, das Echo schien eine kleine Ewigkeit lang hin und her zu irren.
Er merkte, dass das Geschoss seinen rechten Ellbogen streifte, die Wucht des Aufpralls riss ihm die Beine weg. Einen Augenblick lang blieb er benommen liegen. Als aber der Laserstrahl in der von aufgewirbeltem Staub geschwängerten Luft wieder nach ihm zu suchen anfing, schleppte er sich – so schnell sein Zustand es erlaubte, die Kartons als Sichtschutz nutzend – in die nächste Kammer. Er hatte schon wieder versagt. Hatte, durch die skurrile Kleidersammlung abgelenkt, nicht gemerkt,
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