Pendergast 03 - Formula - Tunnel des Grauens
»Schieben Sie bitte den Rollwagen mit den Bestecken näher an mich heran!«
Als Nora den Rollwagen in seine Richtung schob, fiel ihr Blick unwillkürlich auf seinen schlanken, aber muskulösen Körper. Der Agent war erstaunlich durchtrainiert.
»Bitte reichen Sie mir die Klammern, wären Sie so nett?« Typisch für Pendergast: Er verzichtete selbst in prekären Situationen nicht auf Höflichkeitsfloskeln. Er wischte das Blut weg und rieb eine Desinfektionstinktur auf die Wundränder.
»Wollen Sie nicht lieber ein Schmerzmittel einnehmen? Ich habe im Wandschrank …«
»Keine Zeit«, fiel er ihr ins Wort. »Ich muss die Blutung stillen, bevor ich noch mehr Kraft verliere. Wären Sie so freundlich, die Deckenlampe ein bisschen tiefer zu ziehen? Hierher, ja, so ist es gut. Und jetzt die erste Klammer, bitte.« Nora hatte gewöhnlich gute Nerven, aber während sie zusah, wie Pendergast in seinem Bauch herumstocherte, wurde ihr doch mulmig zumute. Und dann legte er auch noch die letzte Klammer beiseite, griff zum Skalpell und öffnete die Bauchdecke mit einem kurzen Kreuzschnitt.
»Sie wollen sich doch wohl nicht selber operieren!«
Pendergast schüttelte den Kopf. »Nur versuchen, die Blutung wenigstens provisorisch zu stillen. Ich muss irgendwie an diese Vene herankommen. Wenn ich mich nicht sehr irre, ist sie ein Stück nach innen gerutscht.« Noch ein kleiner Schnitt, dann schob er ein Besteck in die Bauchdecke, das wie eine übergroße Pinzette aussah.
Nora zuckte zusammen, drehte den Kopf weg und versuchte, an etwas anderes zu denken. Und da ihr nichts Besseres einfiel, kam sie auf die Frage zurück, die sie schon einmal gestellt hatte. »Wie kommen wir eigentlich hier raus?«
»Durch die Kellergewölbe«, erwiderte Pendergast, ohne seineBemühungen zu unterbrechen. »Meine Nachforschungen haben ergeben, dass in dieser Gegend vor etwa hundert, hundertfünfzig Jahren ein Flusspirat gehaust hat. In Anbetracht der ausgedehnten Kellergewölbe bin ich ziemlich sicher, dass er hier sein Basislager hatte.
Er hatte von hier aus einen phantastischen Blick über den Hudson. Heute ist das Flussufer verbaut – denken Sie nur an die umfangreichen Anlagen für den Gewässerschutz!« Er fischte mit dem Besteck eine große, dicke Vene aus seinem Bauch und setzte eine Klammer, damit sie nicht zurückrutschen konnte.
»Aber im neunzehnten Jahrhundert reichte der Blick bis zum unteren Hudson, die Piraten wussten also immer, wo etwas zu holen war. Sie sind mit ihren Booten nachts und mit umwickelten Riemen auf den Fluss gefahren und haben vor Anker liegende Schiffe überfallen. Sie haben auch Passagiere entführt, um Lösegeld zu erpressen. Leng muss das gewusst haben, und ein Haus mit ausgedehnten Kellergewölben war natürlich genau das, was er suchte. Ich bin überzeugt, wir werden einen Kellergang finden, der direkt zum Flussufer führt. Würden Sie mir jetzt bitte das antiseptische Nähmaterial reichen? Nein, die größere Rolle. Genau die, danke.«
Nora sah schnell wieder weg, als Pendergast Anstalten mach-te, die Vene zu unterbinden.
»Gut«, sagte er kurz darauf, nahm die Klammern ab und legte das Nähmaterial beiseite. »Diese Vene war die Hauptursache für die Blutungen. Gegen den Milzriss, den ich vermutlich davongetragen habe, kann ich nichts unternehmen, das muss ich dem Arzt überlassen. Ich werde mich darauf beschränken, die kleineren Blutungen zu verätzen und die Wunde zu schließen. Würden Sie mir bitte diesen Elektrokauter herüberreichen?
Ja, das ist das Gerät, das ich meine.«
Nora starrte etwas verblüfft auf den schlanken blauen Stift am Ende einer elektrischen Zuleitung und die beiden mit
Schneiden
und
Ätzen
beschrifteten Drucktasten. Als Pendergastsich wieder über die Wunde beugte, wandte sie rasch den Blick ab; das unangenehme Geräusch und der aufsteigende Geruch von versengter Haut genügten ihr vollauf.
Sie nahm zu dem probaten Mittel Zuflucht, sich durch Fragen abzulenken. »Was hatte es eigentlich mit Lengs ultimativem Projekt auf sich?«
Pendergast antwortete nicht gleich, erst nach einer geraumen Weile sagte er, immer noch tief über die Wunde gebeugt: »Enoch Leng hatte es sich zum Ziel gesetzt, die menschliche Rasse zu heilen. Er wollte sie retten.«
Nora traute ihren Ohren nicht. »Die menschliche Rasse retten? Aber er hat doch Menschen umgebracht! Gott weiß wie viele unschuldige Menschen.«
»Ja, das hat er.« Der Elektrokauter fing noch einmal zu rattern an.
»Wie wollte
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