Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
Hagelschauern ausgesetzt, aber er schien die Unbilden des Wetters gar nicht wahrzunehmen, während er suchend den Fels umrundete. Und tatsächlich, er traf alles so an, wie er es während der Meditationsübung imGeiste gesehen hatte. Der tiefe Spalt, der den Fels durchzog, war mit etlichen schmalen Felsbrocken verkeilt. Er zog den ersten heraus, wuchtete den zweiten beiseite, und nachdem er auch die darunter verborgenen kleineren Keile entfernt hatte, sah er tief unter sich eine Öffnung gähnen, aus der ihm kühle, mit Feuchtigkeit geschwängerte Luft entgegenschlug.
Er stand vor der Felsspalte, durch die die Geisterkrieger wie aus dem Nichts aufgetaucht und in der sie nach dem Gemetzel wieder spurlos verschwunden waren. Und wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er zugleich auch den verborgenen Eingang entdeckt, der zu den abgelegenen Gewölben von Kraus’ Kavernen führte.
Er stieg vorsichtig, den Lichtstrahl der Stablampe bald nach oben, bald nach unten richtend, in die Felsspalte ein. Es war, wie er vermutet hatte: Die Spalte wurde immer breiter, offenbar war sie ursprünglich eine natürliche Öffnung im Höhlensystem gewesen.
Er hörte losgetretene kleine Steine ins Dunkel kullern. Je tiefer er vordrang, desto gedämpfter drang das Heulen des Sturms zu ihm, bis er es schließlich nur noch wie ein fernes Säuseln hörte. Aber er durfte sich nicht allzu viel Zeit nehmen, das Naturwunder zu bestaunen, in das er eintauchte. Er musste Corrie aufspüren, bevor der Sheriff und sein Einsatzkommando in ihrer Nähe waren.
Der Gang wurde breiter und fiel nicht mehr so steil ab, bis er zu guter Letzt eine scharfe Biegung machte. Pendergast blieb stehen, zog seine Waffe und lauschte ins Dunkel. Tiefe Stille überall. Er huschte wie ein Wiesel um die Biegung und leuchtete das dahinter liegende Terrain mit der Stablampe aus. Vor ihm erstreckte sich eine gigantische Höhle, die der Länge und der Breite nach gut dreißig mal dreißig Meter messen musste. Und als er die Stablampe kreisen ließ, entdeckte er das bizarre Geheimnis, das diese Höhle barg: Dreißig tote Indianerpferde, alle mit den leuchtenden Farben der Kriegsbemalung geschmückt, waren – auf den Vorderbeinen kniend – im Zentrumder Höhle zu einem ringförmigen Kreis angeordnet. Die Höhlenluft hatte sie mumifiziert, bei einigen Pferden ragten gebleichte Knochen aus dem Fell, ihre Lippen waren ausgetrocknet, die gelben Zähne bloßgelegt. Aber die Cheyenne hatten die verletzten Tiere nicht qualvoll verenden lassen, sondern durch einen mitten durch die Stirn geführten Schlag mit dem Kriegsbeil von ihrem Elend erlöst, ihnen mit Adlerfedern den Kamm und den Schweif geschmückt und ihren getreuen vierbeinigen Gefährten eine würdige letzte Ruhestätte bereitet.
Und da war noch ein zweiter, von den toten Kampfrossen wie von einem Schutzwall umschlossener Halbkreis. In ihm hatten dreißig tapfere Cheyenne – die Geisterkrieger – ihre Grabstätte gefunden. Jeder von ihnen hielt seine Waffen in der Rechten und berührte mit der Linken sein totes Pferd – eine Anordnung, in der sich das heilige Symbol des Sonnenrades widerspiegelte. Das Ritual des Sterbens hatte sich im Grunde genauso vollzogen wie bei den Pferden, nur dass die Männer sich die Streitaxt selbst zwischen die Augen geschlagen hatten. Der Krieger, der seinen Freunden bei ihrem Opfergang die Hand geführt hatte, war als Letzter gestorben, seine mumifizierte Hand hielt noch das Steinmesser umklammert, das in seinem Herzen steckte. Es glich dem abgebrochenen Messer, das in Chauncys Bauch gesteckt hatte. Und noch etwas fiel Pendergast auf: Die Köcher mit den Pfeilen, die die Cheyenne ihren toten Kameraden als Grabschmuck beigegeben hatten, stammten aus derselben Zeit wie die Pfeile, die zu der makabren Aufbahrung um Sheila Swegg auf der Lichtung im Mais gehört hatten.
Hier, tief unter der Erde von Medicine Creek, gaben sie Zeugnis von dem denkwürdigen Abend des vierzehnten August 1865. Die Krieger, die den Angriff auf die Fünfundvierzig überlebt und sich erst danach entleibt hatten, wussten sehr wohl, was sie taten. Sie wollten auf ihrem eigenen Land in Würde sterben und nicht von den Weißen in irgendeinemReservat zusammengepfercht werden. Sie wollten nicht erleben, dass Eisenbahnen durch ihr Land führten, dass ihre Kinder weitab gelegene Schulen besuchen mussten, dass sie geschlagen wurden, wenn sie sich in ihrer eigenen Sprache unterhielten, dass man sie ihrer Identität und ihrer
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