Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
Strichmännchen und ein verschlungenes Gewirr, das irgendwie an fremdartige Schriftzeichen erinnerte. Ihr blieb keine Zeit, sich die Kritzeleien genauer anzusehen, sie musste weiter, dem zuerst ansteigenden, danach abfallenden, von mächtigen Felsbrocken eingerahmten Pfad folgend. Schmerzhaft fingen plötzlich ihre aufgescheuerten Fußgelenke zu bluten an. Und kurz darauf stieg, als hätte sich alles gegen sie verschworen, auch noch der Pfad steil an.
Als sie die Laterne höher reckte, sah sie, dass sich unmittelbar vor der Stelle, an der der Weg ins Freie zu führen schien, ein Gewirr von spitzkantigen Felsbrocken auftürmte. Sie hatte nur eine Hand frei, um sich beim Überklettern abzustützen, mit der anderen musste sie die Laterne halten.
Und auf einmal entdeckte sie etwas, was beinahe zu schön war, um wahr zu sein: Hinter dem Gewirr aus Felsbrocken öffnete sich ein Kalksteintunnel, das Deckengewölbe mit glitzernden, blau wie Eis schimmernden Kristallen besetzt, und, was das Beste war, völlig flach. Der Anblick gab ihr neue Kraft, sie fing wieder zu rennen an.
Der Weg schlängelte sich in sanften Windungen durch den Tunnel, in der Mitte hatte sich eine flache Rille gebildet, die das Sickerwasser aufnahm. Auch hier waren die Wände mit plump eingeritzten Markierungen versehen. Sie hastete immer leichtfüßiger durch den Tunnel, patschte übermütig in das kalte Wasser und lauschte dem Echo, das aus der Wölbung widerhallte. Sie war ganz sicher, dass es nur den Widerhall ihrer eigenen Schritte gab, keinen anderen.
Auch wenn sie es kaum glauben konnte, sie hatte ihren Verfolger tatsächlich abgehängt!
Sie ging mit kräftigem Schritt weiter, obwohl sie merkte, dasssie ihre letzten Kraftreserven aufzehrte. Der Pfad führte in eine schmale, lang gezogene Höhle, deren Boden mit den Überresten zersplitterter Stalaktiten übersät war. Der Boden war schlüpfrig, es war schwierig, festen Halt zu finden. Sie nahm den Haltegriff der Laterne zwischen die Zähne, damit sie beide Hände frei hatte und sich beim Klettern abstützen konnte. Es war ein mühseliges Unterfangen, aber die Angst trieb sie vorwärts und ließ sie die aufgeschürften, schmerzenden Hand- und Fußgelenke vergessen. Je weiter sie kam, desto weiter blieben das Ungeheuer und all die schrecklichen Erinnerungen, die sie mit ihm verband, zurück. Der Pfad
musste
irgendwohin führen, wahrscheinlich ins Freie. Und schließlich hatte sie, fast am Ende ihrer Kräfte, den höchsten Punkt des Anstiegs erreicht. Sie atmete dankbar auf, das Schlimmste war geschafft!
Und auf einmal stand er vor ihr. Er hatte auf sie gewartet. Sein monströser Körper war mit Blut beschmiert, an seinem Kinn und an den Lippen klebten Fleischreste. Sein Gesicht – dieses unsäglich hässliche, an einen Alptraum erinnernde Gesicht – war zu einem breiten Grinsen verzerrt.
Als Corrie einen gellenden Schrei ausstieß, reagierte er mit seinem üblichen schrill quiekenden Gelächter. Aber plötzlich glaubte sie, aus dem vermeintlich irren Lachen etwas anderes herauszuhören: ein glückseliges Kinderlachen.
Sie wollte sich Schritt für Schritt nach hinten absetzen, doch da schnellte seine riesige Hand nach vorn und versetzte ihr einen Schlag, der sie zu Boden warf. Die Laterne war ihr entglitten und drohte zu erlöschen, sie konnte nur hilflos zusehen, wie sie wegrollte. Und er stand über ihr und lachte sein schauriges Lachen und klatschte vor Freude in die Hände.
»Geh weg, lass mich in Ruhe!«, schrie sie und schob sich weiter zurück.
Er griff nach ihrer Hand, hielt sie fest umklammert und wollte gar nicht mehr aufhören, zu lachen. Der üble Mundgeruch, der sie anwehte, stank wie eine offene Jauchegrube.
»Lass meine Hand los!«, jammerte sie. »Du tust mir weh!«
»Ho-ho-ho«, lallte er mit schriller Stimme, wobei er ihr einen Schwall Speichel ins Gesicht sprühte. Sie merkte, wie ihr Magen vor Ekel zu rebellieren begann. Aber plötzlich ließ er ihre Hand los, huschte wie ein Schatten davon und verschwand im Dunkel.
Sie stemmte sich mit Mühe hoch, schaffte es sogar, die Laterne zu fassen, und suchte hektisch die Umgebung ab. Sie war von einem Wald aus Stalaktiten umgeben. Wo war das Ungeheuer geblieben? Warum war es weggerannt? Das ist jetzt nicht wichtig!, ermahnte sie sich, sieh zu, dass du wegkommst! Sie war nur ein paar Schritte gegangen, als er plötzlich hinter einem Stalaktiten hervorsprang, ausholte und sie abermals zu Boden warf. Sein irres Lachen
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