Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
geisterte laut durch die Höhle. Und dann verschwand er so verblüffend schnell, wie er aufgetaucht war.
Noch halb benommen, kam sie keuchend auf die Knie. Die Leere, die sie im Kopf verspürte, lähmte sie. Sie suchte verzweifelt nach irgendeiner Erklärung, konnte sich aber einfach keinen Reim auf das rätselhafte Verhalten ihres Peinigers machen. Sie hatte überall blaue Flecken, ringsum herrschte tiefes Dunkel, die Laterne war Gott weiß wohin gerollt.
»He-he-he!«, kam seine Stimme aus dem Dunkel, und gleich darauf hörte sie patschende Schritte.
Sie machte sich ganz klein und wagte es nicht, sich zu bewegen. Ein ratschendes Geräusch, ein Streichholz flammte auf, die Laterne brannte wieder. Und als ihr Lichtschimmer die Höhle aufhellte, sah Corrie zu ihrem Entsetzen, dass das Ungeheuer breitbeinig, die schadhaften, fleckigen Zähne zu einer verzerrten Grimasse gebleckt, über ihr stand. Um gleich darauf wieder davonzuhuschen und sich abermals zu verstecken.
Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er wollte Räuber und Gendarm mit ihr spielen!
Sie schluckte und versuchte, ihre Stimme trotz aller Ängsteruhig klingen zu lassen. »Willst du ein Spiel mit mir spielen?«, rief sie ins Dunkel.
Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann lachte er sein quietschendes Lachen, kam blitzschnell aus seinem Versteck und schoss, die gefährlich langen Fingernägel gereckt, auf sie zu. Und ehe sie noch begriff, was er vorhatte, gruben sich seine Nägel schmerzhaft in ihre Schultern. »Ja, spill!«, quietschte er vergnügt.
»Nein, warte«, brachte sie heraus, »so geht das Spiel nicht, wir müssen uns erst über die Regeln einig sein.«
»Spill! Spill!«, verlangte er mit röhrendem Lallen. Der schüttere Bart zuckte vergnügt auf und ab.
Und weil Corrie ahnte, dass er sowieso keine Ruhe geben würde, wollte sie sich schon ins Unvermeidliche fügen.
Aber da verstummte sein Gelächter plötzlich, er drehte sich abrupt um und lauschte. Und im nächsten Augenblick packte er die Laterne, warf sich Corrie über die Schulter und jagte in atemberaubendem Tempo los. Ihr wurde schwindelig, als sie sah, wie nahe er an den scharfen Kanten der Stalaktiten entlangeilte, sie schloss rasch die Augen.
Bis er plötzlich stehen blieb. Sie schaute sich zögernd um. Die Höhle, vor der sie Halt gemacht hatten, war eigentlich nicht mehr als ein schmaler Schlauch, der in unergründliches Dunkel führte. Er ließ Corrie herunter und versuchte, sie unsanft, mit den Füßen voran, in die Höhle zu schieben.
»Nein, bitte nicht!«, wollte sie protestieren.
Aber da hatte er sie schon in die schmale Höhle geschoben und einfach fallen lassen. Er schaute von oben durch den Eingang, das Licht der Laterne auf sie gerichtet, die Lippen zu einem verzerrten Lächeln gespitzt.
»Ho-ho-ho!«, lallte er. Aber sein Lächeln war erloschen, er sah traurig aus.
Und im nächsten Augenblick zog er den Kopf und die Laterne zurück, verschwand lautlos im Dunkel und ließ sie allein und ohne Licht in der kalten, feuchten Gruft zurück.
60
Pendergast eilte mit schnellem Schritt durch die bizarre Höhlenlandschaft. Die in die Felswände eingeritzten Wegemarken waren zwar im Laufe der Jahre ein wenig verblasst, aber ohne sie wäre die Orientierung sehr schwierig gewesen.
Das Höhlensystem erstreckte sich über ein so ausgedehntes Gebiet, dass selbst seine topografische Karte nur einen verschwindend kleinen Teil davon wiedergeben konnte. Dazu kam, dass die Karteneinzeichnungen in vielen Details nicht stimmten; die Tatsache, dass die eine oder andere Höhle auf einer ganz anderen Ebene lag als die übrigen, war auf der Karte weitgehend unberücksichtigt geblieben. Dem, der sich hier auskannte – zum Beispiel dem Mörder –, gereichte das zum Vorteil, weil er wusste, wie man über verborgene Verbindungsgänge innerhalb weniger Minuten einen Ort erreichen konnte, der, nach den linearen Karteneinzeichnungen zu schließen, meilenweit entfernt liegen musste.
Dennoch war die topografische Karte eine überaus nützliche Orientierungshilfe, zumal sie Eintragungen enthielt, die man im offiziellen Kartenwerk des staatlichen geologischen Dienstes vergeblich suchte. Dem Nutzer wurde schnell klar, dass es sich mit Kraus’ Kavernen ähnlich verhielt wie mit einem Eisberg, bei dem auch nur die Spitze aus dem Wasser ragt. Das Höhlensystem reichte bis unter das Stadtgebiet von Medicine Creek und erstreckte sich weit in das ländliche Umfeld, sodass es für
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