Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
verbannte seine Tochter und die Frucht ihrer Sünde in die Höhlen.« Pendergast suchte den Blick der alten Lady. »War es nicht so? Sie mussten Ihren Sohn, ein Baby, im Dunkel der Höhlen großziehen.«
Winifred Kraus saß mit zusammengepressten Lippen da und sagte kein Wort.
»Und nachdem einige Zeit vergangen war«, fuhr Pendergast fort, »fanden Sie die Lösung gar nicht mal so schlecht, nicht wahr? Sie und Ihr Baby waren in dem Höhlensystem gegen alle Bosheiten und Anfechtungen der Welt auf ideale Weise abgeschottet. Es war in gewisser Weise der Traum, den alle Mütter träumen. Sie hatten Ihren kleinen Jungen ganz für sich. Sie wussten, dass er nie eine andere Frau vorziehen, ja dass er Sie nie verlassen würde, so wie Ihre Mutter Sie einst verlassen hatte. Er war auf Sie angewiesen, und er liebte Sie –
nur
Sie.«
Winifred Kraus wiegte sich vor und zurück und weinte bitterlich, aber über ihre Lippen kam kein Wort.
»Nach einer Weile hat Ihr Vater beschlossen, Sie zurück in Ihre vertraute Welt zu holen. Sie, aber nicht das Baby. Es hätte Zeugnis von Ihrer Sünde geben können, und das hätte Ihr Vater nie geduldet.«
Hazen starrte Winifred Kraus aus weit aufgerissenen Augen an. »Wie konnten Sie es übers Herz bringen…?«
»Darf ich fragen, welchen Namen Sie Ihrem Jungen gegeben haben, Miss Kraus?«, fiel ihm Pendergast ins Wort.
»Job«, brachte sie flüsternd heraus.
»Ein biblischer Name, das war nahe liegend. Und einer, der zu ihm passt, wie sich herausgestellt hat. Er wuchs zu einem großen, kräftigen Mann heran. Denn in der Welt, in der er lebte, musste er so groß und stark sein, damit er steile Felsen erklimmen konnte. Nur, es war nicht die Welt, in der glückliche Kinder heranwachsen können. Er hat nie erfahren, wie es ist, mit Kindern im gleichen Alter zu spielen. Er hat nie eine Schule besucht. Er hat nicht einmal richtig sprechen gelernt. Wie auch, wenn er bis zu seinem einundfünfzigsten Lebensjahr keinem Menschen außer Ihnen begegnet ist? Der Junge war ohne jeden Zweifel überdurchschnittlich intelligent, seine kreative Begabung war bemerkenswert. Aber er hatte nie die Chance, soziale Bindungen zu einem anderen Menschen als Ihnen zu entwickeln. Gewiss, Sie haben ihn regelmäßig besucht und ihm Geschichten vorgelesen, aber das hat nicht genügt, um ihn mehr als rudimentäre, verstümmelte Worte zu lehren. Dabei war er so ein gescheiter und wissbegieriger Junge! Denken Sie nur an all das, was er sich selbst beigebracht hat: ein Feuer zu entzünden, Knoten zu knüpfen, aus irgendwelchen Fundstücken kleine Kunstwerke zu formen!«
Winifred Kraus wich seinem Blick aus.
»Ich vermute, irgendwann ist Ihnen selbst klar geworden, dass es falsch war, ihn in der Höhlenwelt zu isolieren – ohneSonnenlicht, ohne eine Begegnung mit der Zivilisation, ohne Kontakt zu anderen Menschen und soziale Integration. Aber da dachten Sie wahrscheinlich, es sei schon zu spät.«
Die alte Lady weinte stumm in sich hinein.
Hazen musste ein paarmal tief Luft holen, bis er mit heiser krächzender Stimme einwenden konnte: »Aber er war doch draußen! Er ist schließlich aus seiner Höhlenwelt ausgebrochen und hat einen Mord nach dem anderen begangen!«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Pendergast. »Die Frage ist nur, warum? Sheila Swegg hat bei ihren Raubgrabungen an den Hügeln den indianischen Geheimeingang in eine Höhle entdeckt. Es war derselbe Eingang, den die Geisterkrieger benutzt haben, als sie wie aus dem Nichts über die Fünfundvierzig hergefallen sind. Nach dem Gemetzel an den Hügeln hatten ihn die Cheyenne wieder von innen blockiert, damit sie in aller Stille ihren rituellen Selbstmord zelebrieren konnten. Aber Sheila hat den Gang bei ihren Grabungen entdeckt, und das wurde ihr zum Verhängnis…Job muss zutiefst erschrocken sein, als sie plötzlich in seinen Höhlen aufgetaucht ist. Er hatte außer seiner Mutter niemals ein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen. Er wusste gar nichts von der Existenz anderer Menschen. Also hat er sie getötet, aber mit Sicherheit nicht vorsätzlich, sondern aus purer Angst. Und dann hat er den geheimen, von ihr frisch freigelegten Höhlenzugang gesehen, ist nach draußen geklettert und hat eine wundersame neue Welt entdeckt. Muss das nicht ein unvorstellbarer Schock für ihn gewesen sein? Denn seine Mutter hatte ihm nie etwas von der Welt oberhalb der Höhlen erzählt. Nicht wahr, Miss Kraus?«
Winifred schüttelte stumm den Kopf.
»Nehmen wir an, es
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