Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
gelesen und die kitschige Bordzeitschrift durchgeblättert. Die erste Klasse war schwach besetzt, und weil es nach Londoner Zeit fast 2 Uhr morgens war, schliefen die wenigen Fluggäste. Also hatte sie die Flugbegleiterin für sich allein. Sie machte die Frau auf sich aufmerksam.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Lady Maskelene?«
Viola Maskelene zuckte leicht zusammen, als sie aus dem Mund der Stewardess ihren Namen hörte. Wieso um alles in der Welt kannten die Leute ihn? »Einen Champagner bitte. Und wenn’s Ihnen nichts ausmacht, nennen Sie mich bitte nicht Lady Maskelene. Ich komme mir dadurch wie eine alte Dame vor. Nennen Sie mich stattdessen Viola.«
»Entschuldigen Sie. Ich bringe Ihnen sofort Ihren Champagner.«
»Herzlichen Dank.«
Während Viola wartete, kramte sie in ihrer Handtasche und zog den Brief heraus, den sie drei Tage zuvor in ihrem Haus auf der italienischen Insel Capraia erhalten hatte. Er zeigte zwar schon erste Anzeichen, dass er einmal zu oft geöffnet und wieder zusammengefaltet worden war, aber sie las ihn trotzdem aufs Neue.
Meine liebe Viola,
dieser Brief wird Sie zweifellos erschrecken, und dafür entschuldige ich mich. Ich befinde mich in einer ähnlichen Situation wie einst Mark Twain, denn ich muss Ihnen sagen, dass die Berichte über meinen Tod enorm übertrieben sind. Ich bin wohlauf sah mich jedoch gezwungen, aufgrund eines außergewöhnlich heiklen Falles, an dem ich gerade arbeite, unterzutauchen. Das, in Verbindung mit gewissen Ereignissen jüngeren Datums in der Toskana, mit denen Sie ohne Zweifel bekannt sind, hat unter Freunden und Kollegen den bedauerlichen Eindruck hervorgerufen, ich sei tot. Eine gewisse Zeit erschien es mir nützlich, diesen Eindruck nicht zu korrigieren. Doch ich bin tatsächlich am Leben, Viola – auch wenn ich eine Erfahrung gemacht habe, die mich dem Tode so nahe gebracht hat, wie es einem Menschen nur widerfahren kann.
Dieses entsetzliche Erlebnis ist auch der Grund für meinen Brief. In jenen furchtbaren Stunden des nahenden Todes ist mir klar geworden, wie kurz das Leben ist, wie zerbrechlich, und dass keiner von uns jene seltenen Gelegenheiten des Glücks ungenutzt vorbeiziehen lassen darf. Als wir uns zufällig auf Capraia kennen gelernt haben, nur wenige Stunden ehe diese Erfahrung einsetzte, wurde ich überrascht – und wenn Sie mir verzeihen, das zu sagen: Sie wohl auch. Etwas ist zwischen uns geschehen. Sie haben auf mich einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, und ich hege die Hoffnung, dass ich einen nicht unähnlichen Eindruck bei Ihnen hinterlassen habe. Ich möchte Sie daher zu einem vierzehntägigen Aufenthalt in New York einladen, damit wir einander besser kennen lernen können. Um festzustellen, ob jener Eindruck tatsächlich so unauslöschlich und ebenso günstig ist, wie er es meiner tiefen Überzeugung nach ist.
Viola musste schmunzeln; die altmodische, ein wenig ungelenke Ausdrucksweise war so typisch Pendergast, dass sie seine Stimme förmlich hören konnte. Aber Tatsache war, dass es sich bei diesem Schreiben um einen wirklich außergewöhnlichen Brief handelte, einen gänzlich anderen als alle, die sie je bekommen hatte. So viele Männer hatten sich ihr auf unterschiedliche Weise genähert, doch keiner auf diese oder ähnliche Art. Etwas ist zwischen uns geschehen. Das stimmte. Wie dem auch sei, die meisten Frauen wären überrascht und sogar schockiert, eine solche Einladung zu erhalten. Irgendwie hatte Aloysius sie bereits nach einer Stunde Beisammenseins gut genug gekannt, um zu verstehen, dass ihr ein solcher Brief nicht missfallen würde. Ganz im Gegenteil …
Sie widmete sich wieder dem Schreiben.
Wenn Sie meine zugegebenermaßen unkonventionelle Einladung annehmen, buchen Sie bitte am 27. Januar den Flug 822 mit der British Airways von Gatwick nach Kennedy. Erzählen Sie niemandem, warum Sie kommen. Ich werde Ihnen alles erklären, sobald Sie hier sind; es genügt wohl, wenn ich sage, dass die Nachricht Ihres Besuchs, falls sie denn bekannt würde, auch zum jetzigen Zeitpunkt noch mein Leben in Gefahr bringen könnte.
Bei Ihrer Ankunft in Kennedy wird mein lieber Bruder Diogenes Sie am Ausgang in Empfang nehmen.
Diogenes. Sie musste lächeln, als ihr einfiel, dass Aloysius ihr auf Capraia gesagt hatte, dass es in seiner Familie viele exzentrische Namen gebe. Und er hatte nicht übertrieben – welche Eltern nannten ihren Sohn Diogenes?
Sie werden Diogenes sofort erkennen, denn er
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