Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
Verbrechen rekonstruieren – aber man kann nicht das Böse in diesen Menschen erklären.«
Krasner sah ihn an, und seine Miene verriet eine große Traurigkeit. »Da befinden Sie sich im Irrtum, mein Freund. Niemand wird böse geboren.«
Pendergast streckte die Hand aus. »Dann sind wir eben unterschiedlicher Meinung.« Dann wandte er den Blick direkt in Richtung der versteckten Kamera; Glinn erschrak. Warum wusste Pendergast, wo sich die Kamera befand?
»Mr Glinn? Auch Ihnen ein Dankeschön für Ihre Bemühungen. Sie müssten in der Akte reichlich Material vorfinden, um die anstehende Aufgabe zu Ende führen zu können. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Etwas Schreckliches wird heute geschehen, und ich muss alles in meiner Macht Stehende tun, um es zu verhindern.«
Und damit wandte sich Pendergast ab und verließ mit langen Schritten den Raum.
42
Die Villa am Riverside Drive 891 lag über einem der vielschichtigsten geologischen Gebiete von Manhattan. Hier, tief unter den mit Abfall übersäten Straßen, ging das Grundgestein des Hartland-Schiefers in eine andere Gesteinsformation über, die so genannte Cambrian Manhattan. Der Gneis der Manhattan-Formation war besonders stark gefaltet und verzerrt, überdies durchsetzt von löchrigen Bereichen, Spalten und natürlichen Tunneln. Eines dieser labilen Gebiete hatte sich vor mehreren Jahrhunderten ausgeweitet, so dass sich vom unteren Kellergeschoss der Villa bis zum mit Unkraut bedeckten Ufer des Hudson Rivers ein unterirdischer Gang geformt hatte. Aber es gab auch noch andere Tunnel, älter und geheimnisvoller, die sich unter der Villa in dunkle und unbekannte Tiefen gruben. Diese Gänge waren niemandem bekannt – außer einer jungen Frau.
Constance Greene ging gemessenen Schrittes durch einen dieser Tunnel und stieg mit geübter Leichtigkeit in die Finsternis. In ihrer schlanken Hand hielt sie eine Stablampe, die jedoch nicht angeschaltet war: Constance kannte sich in diesen unterirdischen Räumen so gut aus, dass sie kein Licht benötigte. Der Gang war an vielen Stellen derart schmal, dass sie den Wänden mit ausgestreckten Armen folgen konnte. Der Tunnelgang bestand aus natürlichem Felsgestein, aber die Decke war hoch und recht gleichmäßig geformt, und der Boden war so eben, dass man fast den Eindruck hatte, er sei von Menschenhand geschaffen.
Doch nur Constance war je diesen Weg gegangen.
Bis vor einigen Tagen noch hatte sie gehofft, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Denn er weckte Erinnerungen an die alten Zeiten – die schlechten Zeiten –, als sie Dinge mit angesehen hatte, denen kein Mensch beiwohnen sollte. Als er gekommen war, voll Gewalt und Mordlust, und ihr den einzigen Menschen nahm, den sie gekannt hatte, den Mann, der wie ein Vater zu ihr gewesen war. Der Mörder hatte die geordnete Welt, an die sie sich gewöhnt hatte, auf den Kopf gestellt. Da war sie hierher geflohen, in die kühlen Winkel des Erdreichs. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als sei auch ihre geistige Gesundheit unter der Wucht dieses Schocks geflohen.
Doch ihr Geist war über zu viele Jahre sorgfältig ausgebildet worden, als dass er vollständig verloren gehen konnte. Langsam, langsam kehrte Constance zurück. Und so begann sie allmählich wieder, sich für das Leben der Wachenden, der Lebenden zu interessieren und begann in ihr altes Zuhause, ihre Welt, das Haus am Riverside Drive 891, hinaufzukriechen. Dies geschah, als sie den Mann namens Wren beobachtete und sich – schließlich – dem gütigen alten Herrn offenbarte. Dieser wiederum hatte sie zu Pendergast gebracht.
Pendergast. Er hatte sie in die Welt der Lebenden zurückgeholt und ihr dabei geholfen, aus der schattenhaften Vergangenheit hinaus in eine hellere Gegenwart zu gelangen. Aber das Werk war noch nicht vollbracht. Constance war sich dieser dünnen Linie, die sie noch immer vom Zustand seelischer Stabilität trennte, nur allzu bewusst. Und nun war das passiert … Während Constance den Gang entlangging, musste sie sich anstrengen, nicht loszuschluchzen.
Aber alles wird gut werden, versuchte sie sich einzureden. Alles wird gut. Aloysius hatte es ihr versprochen. Und er vermochte alles, wie es schien; selbst von den Toten aufzuerstehen. Außerdem hatte sie ihm selbst ein Versprechen gegeben, und das würde sie auch halten: Nämlich ihre Nächte hier zu verbringen, wo nicht einmal Diogenes Pendergast sie jemals finden würde. Sie wollte ihr Versprechen halten, trotz des fürchterlichen
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