Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
Bruder, wie nett von dir, dass du den weiten Weg in Kauf genommen hast, um mich zu besuchen. Du hast dich so lange ferngehalten, du schlimmer Mensch. Nicht, dass ich dir die Schuld gebe, natürlich nicht, aber es übersteigt fast meine Kräfte, hier im Norden mit diesen barbarischen Yankees zu leben.« Sie lachte kurz auf.
Okay, dachte D’Agosta. Constance hatte ihm erzählt, dass Cornelia Pendergast in einer Phantasiewelt lebte und glaubte, sie befände sich entweder in Ravenscry, dem Anwesen ihres Mannes nördlich von New York, oder im alten Familiensitz der Pendergasts in New Orleans. Offenbar wohnte sie heute in Ersterem.
»Freut mich, dich zu sehen, Cornelia«, sagte D’Agosta vorsichtig.
»Und wer ist diese bezaubernde junge Dame in deiner Begleitung?«
»Das ist Laura, meine… Frau.«
Hayward sah ihn böse an.
»Wie reizend! Ich habe mich schon immer gefragt, wann du dir endlich eine Braut nimmst. Es wird höchste Zeit, dass neues Blut in die Linie der Familie Pendergast kommt. Darf ich dir eine kleine Erfrischung anbieten? Tee vielleicht? Oder noch besser: dein Lieblingsgetränk, Pfefferminzbowle?« Sie warf einen Blick auf die Pfleger, die in gebührendem Abstand Position bezogen hatten. Sie blieben regungslos stehen.
»Danke, wir möchten nichts trinken«, sagte D’Agosta.
»Das ist wohl auch besser so. Das heutige Personal ist wirklich furchtbar.« Sie wedelte mit einer Hand in Richtung der beiden Pfleger, die leicht zusammenzuckten. Dann beugte sie sich vor, als wollte sie ihn in ein Geheimnis einweihen, das alle im Zimmer mitbekommen sollten. »Du ahnst nicht, wie sehr ich dich beneide. Das Leben im Süden ist ja so viel kultivierter. Die Menschen hier sind einfach nicht mehr stolz darauf, der dienenden Klasse anzugehören.«
Während D’Agosta mitfühlend nickte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl der Irrealität. Hier saß diese elegante alte Dame und plauderte liebenswürdig mit einem Bruder, den sie vor fast vierzig Jahren vergiftet hatte. Wie sollte er weitermachen? Dr. Ostrom hatte ihn gebeten, das Treffen möglichst kurz zu halten. Am besten also, er kam gleich zur Sache. »Wie, äh, wie geht’s denn der Familie?«
»Ich werde es meinem Mann nie verzeihen, dass er uns hier in diese zugige Bruchbude verfrachtet hat. Das Wetter ist einfach grässlich, und außerdem herrscht hier ein schockierender Mangel an Kultur. Meine lieben Kinder sind mein einziger Trost.« Das Lächeln, das diese Bemerkung begleitete, schien so freundlich, dass D’Agosta ein Schauer über den Rücken lief. Ob sie ihren Kindern wohl beim Sterben zugeschaut hatte?
»Natürlich gibt es auch keine Nachbarn, mit denen man gesellschaftlichen Umgang pflegen könnte. Folglich lebe ich ganz für mich. Ich versuche, um meiner Gesundheit willen spazieren zu gehen, aber der Wind ist so scharf, dass er mich immer wieder ins Haus treibt. Ich bin schon so blass wie ein Gespenst. Sieh selbst.« Und dabei hob sie die dünne, zittrige Hand von dem bestickten Kissen, damit D’Agosta sie betrachten konnte.
Er trat unwillkürlich einen Schritt vor. Ostrom runzelte die Stirn und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er stehen bleiben sollte.
»Wie geht’s denn dem Rest der Familie?«, fragte D’Agosta. »Von unseren Neffen habe ich lange nichts mehr gehört.«
»Aloysius besucht mich ab und zu. Wenn er Rat braucht.« Wieder lächelte sie, und ihre Augen blitzten. »Er ist ein so guter Junge. Höflich zu uns Alten. Nicht wie der andere.«
»Diogenes«, sagte D’Agosta.
Die alte Dame nickte. »Diogenes.« Sie schauderte. »Vom Tag seiner Geburt an war er anders als die anderen. Und dann seine Erkrankung… und diese merkwürdigen Augen, die er hatte.« Sie stockte. »Du weißt doch, was man über ihn sagte?«
»Erzähl mir davon.«
»Du lieber Gott, Ambergris, hast du das denn schon vergessen?« Einen Moment lang meinte D’Agosta, dass sich in Cornelia Pendergasts Gesichtszügen eine gewisse Skepsis gezeigt hätte. Sie verschwand jedoch so schnell, wie seine vermeintliche Schwester den Blick nach innen richtete. »Der Stammbaum der Pendergasts ist seit Jahrhunderten befleckt. Aber wir beide, Ambergris, wir beide sind durch die Gnade Gottes davon verschont geblieben.« Diesem frommen Satz folgte eine angemessen lange Pause. »Der kleine Diogenes war von Anfang an nicht ganz richtig im Kopf«, fuhr Cornelia fort. »Ein schlechter Spross, in der Tat. Nach seiner schweren Erkrankung kam die dunkle Seite unseres Geschlechts
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