Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
den Wänden voller Bücher und eingehüllt in den Geruch von Leder und offenem Feuer, konnte er sich fast einbilden, dass Pendergast, mit in freudiger Erwartung auf den Beginn der Jagd glitzernden Augen, neben ihm saß und ihm dabei half, die schon lange erkaltete Fährte aufzunehmen.
Nur gab es leider herzlich wenig, auf das man Jagd machen konnte. D’Agosta musterte noch einmal die Schriftstücke auf dem Tisch. Zeitungsausschnitte, Briefe, Fotografien und alte Berichte. Pendergast hatte die Drohung seines Bruders zweifellos ernst genommen: Die Sammlung war vorzüglich geordnet und mit Anmerkungen versehen. Es war beinahe so, als habe Pendergast geahnt, dass er möglicherweise nicht vor Ort sein würde, um sich der Herausforderung zu stellen, und dass er die Aufgabe vielleicht anderen überlassen musste. Er hatte jede noch so geringfügige Information aufbewahrt, die er in die Finger bekommen konnte.
Während der letzten Stunden hatte D’Agosta alles, was auf dem Tisch lag, zweimal und – in manchen Fällen – sogar dreimal gelesen. Nachdem Diogenes im Anschluss an den Tod seiner Eltern die Verbindung mit dem Pendergast-Clan abgebrochen hatte, war er untergetaucht. Fast ein Jahr lang hatte man gar nichts von ihm gehört. Dann traf ein Schreiben des Familienanwalts ein, in dem darum gebeten wurde, den Betrag von 100.000 US-Dollar zugunsten von Diogenes auf eine Züricher Bank zu überweisen. Ein Jahr darauf folgte ein ähnlicher Brief, in dem verlangt wurde, dass 250.000 Dollar an eine Bank in Heidelberg gehen sollten. Dieses zweite Ansinnen lehnte die Familie ab, was Diogenes zu einer Reaktion veranlasste. Jetzt lag sein Brief, versiegelt zwischen zwei Scheiben Plexiglas, auf dem Tisch. D’Agosta warf erneut einen Blick auf die spinnenfeine, ausgesprochen penible und für einen Siebzehnjährigen merkwürdig unangemessene Handschrift. Der Brief enthielt weder ein Datum noch eine Anschrift und war an Pendergast adressiert:
Ave, frater –
ich empfinde es als unangenehm, Dir in dieser – oder irgendeiner anderen – Angelegenheit zu schreiben. Aber Du zwingst mich dazu. Denn ich hege keinerlei Zweifel, dass Du hinter der Ablehnung meines Ersuchens um weitere Geldmittel steckst.
Ich muss Dich nicht daran erinnern, dass ich in einigen Jahren mein Erbe erhalten werde. Bis dahin werde ich hin und wieder bestimmte geringfügige Geldsummen verlangen, wie ich sie etwa vergangenen Monat verlangt habe. Du wirst feststellen, dass es in Deinem wohlverstandenen Interesse liegt – und im wohlverstandenen Interesse anderer, die Du vielleicht kennst oder auch nicht –, derartigen Ersuchen meinerseits nachzukommen. Ich habe eigentlich gedacht, dass unser letztes Gespräch in Baton Rouge dies deutlich gemacht hätte. Ich bin zurzeit sehr mit diversen Forschungen und Studien beschäftigt und habe daher keine Zeit, Geld auf die herkömmliche Art und Weise zu verdienen. Sollte ich allerdings dazu genötigt werden, werde ich die benötigten Geldmittel besorgen – und zwar auf eine Art, die mich selbst amüsiert. Solltest Du nicht wünschen, dass meine Aufmerksamkeit auf solche Weise abgelenkt wird, wirst Du meinem Ersuchen schnellstmöglich nachkommen.
Wenn ich Dir das nächste Mal schreibe, werde ich den Gegenstand meiner Mitteilung bestimmen, nicht Du. Ich werde das heutige Thema nicht noch einmal zur Sprache bringen. Lebe wohl, Bruder. Und bonne chance.
D’Agosta legte den Brief zur Seite. Wie die Kontoauszüge zeigten, war das Geld prompt überwiesen worden. Im folgenden Jahr war eine vergleichbare Summe an eine Bank in der Threadneedle Street in London telegraphisch überwiesen worden. Ein Jahr später wurde eine hohe Summe an eine Bank in Kent überwiesen. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag ließ sich Diogenes kurz blicken, um sein Erbe anzutreten – siebenundachtzig Millionen Dollar. Zwei Monate darauf kam er Zeitungsberichten zufolge bei einem Verkehrsunfall in der High Street in Canterbury ums Leben, verbrannte bis zur Unkenntlichkeit. Die Erbschaft wurde niemals gefunden.
D’Agosta drehte die gefälschte Todesurkunde in den Händen. Ich bin zurzeit sehr mit diversen Forschungen und Studien beschäftigt. Aber womit, genau? Das sagte Diogenes natürlich nicht, und auch sein Bruder schwieg sich darüber aus. Oder doch nicht? D’Agostas Blick fiel auf einen Stapel Zeitungsausschnitte neueren Datums. Sie waren einer Vielzahl ausländischer Zeitschriften und Zeitungen entnommen. Jeder Artikel war mit
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