Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
D’Agosta langsam durch das Großraumbüro der Mordkommission schritt, fühlte er sich ein wenig befangen. Zwar war er Lieutenant bei der New Yorker Polizei und hatte mehr oder weniger carte blanche, in den Hallen von One Police Plaza zu wandeln, wie er wollte, aber er kam sich trotzdem wie ein Spion auf feindlichem Gebiet vor.
Ich muss mehr wissen, hatte Pendergast gesagt. Selbst das kleinste, unscheinbarste Detail kann entscheidend sein. Es war sonnenklar, was Pendergast gemeint hatte: Er brauchte die Akte zum Fall Duchamp. Und genauso deutlich war, dass er erwartete, dass D’Agosta sie ihm besorgte.
Nur, es war nicht so leicht gewesen, wie D’Agosta sich das vorgestellt hatte. Er war erst seit zwei Tagen wieder an seinem Arbeitsplatz und hatte mehr Zeit als erwartet investieren müssen, im Fall Baumelmann auf den neuesten Stand zu kommen. Und in der Tat schien dieser Irre mit jedem Einbruch dreister zu werden: In den zwei Tagen, in denen D’Agosta nicht im Büro gewesen war, hatte der Kerl bereits drei weitere Geldautomaten ausgeraubt. Und jetzt war noch der Duchamp-Mord dazugekommen, weshalb für die Überwachungen weniger Leute zur Verfügung standen. Die Koordination der Zwei-Mann-Teams und die Gespräche mit den Filialleitern der betroffenen Banken waren ziemlich zeitaufwändig gewesen. Offen gestanden, hatte er sich mehr um diese Dinge gekümmert, als er das hätte tun sollen, und deshalb war er auch mit den Vernehmungen möglicher Augenzeugen ziemlich weit ins Hintertreffen geraten. Und während der ganzen Zeit war ihm Pendergasts eindringliche Stimme nicht aus dem Kopf gegangen. Denn dahinter verbarg sich folgende Botschaft: Wir müssen schnell handeln, Vincent. Ehe er wieder tötet.
Und dennoch… Obwohl er kostbare Arbeitsstunden mit dem intensiven Studium der Online-Akten zum Duchamp-Mord vergeudet hatte, hatte er kaum etwas entdeckt, was er nicht schon wusste – beziehungsweise, was Pendergast nicht selbst mit seinem Notebook abrufen konnte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich die Fallakte zu besorgen.
In der Linken trug er einen kleinen Stapel Papiere: die Vernehmungen vom Vortag mit einem möglichen Augenzeugen im Fall Duchamp – die er allerdings bloß zur Tarnung mitgenommen hatte, als etwas, an dem er sich festhalten konnte. D’Agosta sah im Gehen auf die Uhr. Zehn vor sechs. In dem Riesenraum herrschte noch immer hektische Betriebsamkeit – Polizeibeamte standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich, telefonierten oder tippten – der weitaus häufigste Fall – irgendetwas in ihre Computer. Die Beamten der Mordkommission hatten Zugang zu sämtlichen Computerdaten, und auf jedem Revier fand man garantiert jemanden – ob tagsüber oder nachts –, der an seinem Schreibtisch saß und Verwaltungskram erledigte. Offenbar verbrachte ein Polizist den Großteil seines Lebens mit der Erledigung von Papierkram, und nirgends gab es davon mehr als in der Mordkommission.
Aber D’Agosta störte das ganze Treiben überhaupt nicht, nein, er begrüßte es sogar. Wenn überhaupt, ermöglichte es ihm, sich leichter unter die Leute zu mischen. Wichtig war nur, dass Laura nicht in ihrem Büro war. Es war Donnerstag, der Wochentag, an dem Commissioner Rocker immer seine Lagebesprechungen abhielt. Wegen des Falles Duchamp war Laura mit Sicherheit dort.
Er blickte ein wenig schuldbewusst durch das Großraumbüro. Dahinten befand sich Lauras Büro, die Tür stand weit offen, der Schreibtisch war übersät mit Papieren. Bei diesem Anblick erhöhte sich kurz sein Pulsschlag. Erst vor einigen Monaten hatten sie Lauras Schreibtisch zu etwas völlig anderem genutzt als zum Ausfüllen von Papieren. Er seufzte. Aber damals hatte sich ihr Büro ja auch im nächsthöheren Stockwerk befunden. Seitdem war eine Menge passiert – und das meiste davon war nichts Gutes gewesen.
Er sah sich um. Zur Rechten befand sich eine Reihe leerer Schreibtische, an der Stirnseite standen die Namensschilder und an der einen Seite die Computer. Vor ihm und entlang der linken Wand standen mindestens ein Dutzend Aktenschränke, die, übereinander gestapelt, vom Boden bis zur Decke reichten. In ihnen befanden sich die Akten sämtlicher ungelöster Mordfälle.
Die gute Nachricht lautete: Der Duchamp-Fall war noch ungelöst. Alle abgeschlossenen Fälle wurden archiviert, und wenn man sie sehen wollte, musste man sich einschreiben, was wiederum zu einer Fülle anderer damit verbundener Security-Probleme führte. Die
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