Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
Baumelmann-Story übertragen würde. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass er nicht einmal wusste, wie lange er hier bleiben würde.
Er drehte sich um und ging wieder im Zimmer auf und ab, halb verrückt vor Sorgen. Da klopfte es leise an der Tür.
»Was ist denn?«, rief Smithback verärgert.
Eine nicht mehr ganz junge Krankenschwester, die sich das rabenschwarze Haar zu einem strengen Knoten gebunden hatte, steckte das ausgezehrte Gesicht ins Zimmer. »Das Abendessen wird gerade serviert, Mr Jones.«
»Ich komme gleich runter, danke.«
Edward Jones, der mit Problemen belastete Sohn eines New Yorker Investmentbankers, der etwas Ruhe, Entspannung und ein wenig Abgeschiedenheit vom hektischen Alltag brauchte. Es kam ihm in der Tat sehr seltsam vor, sich für Edward Jones auszugeben und in einem Haus zu wohnen, wo ihn alle für einen anderen hielten. Zumal für jemanden, der nicht ganz richtig im Kopf war. Nur Pendergasts Bekannter, der Klinik-Direktor – ein gewisser Dr. Tisander – kannte die Wahrheit. Und Smithback hatte ihn nur im Vorübergehen gesehen, während Pendergast mit den Einweisungsunterlagen beschäftigt gewesen war; sie hatten noch keine Gelegenheit gefunden, unter vier Augen miteinander zu sprechen.
Nachdem er das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte – offensichtlich gab es zu keinem der Gästezimmer einen Schlüssel –, ging Smithback den langen Flur entlang. Seine Schritte machten auf dem dicken, roséfarbenen Teppichboden kaum Geräusche. Der Gang war mit dunklem Mahagoniholz getäfelt. Ölgemälde zierten auch diese Wände. Der einzige Laut war das leise Seufzen des Windes draußen. Das große Haus schien in geradezu übersinnliches Schweigen gehüllt.
Ein Stückchen vor ihm endete der Gang an einem großen Treppenabsatz, von dem eine breite Treppe hinabführte. Hinter der nächsten Ecke hörte er leise Stimmen. Sofort wurde seine instinktive Reporterneugier geweckt, und er verlangsamte den Schritt.
»… weiß nicht, wie lange ich die Arbeit in dieser Klapsmühle noch ertrage«, hörte er eine schroffe Männerstimme.
»Ach, hör doch auf zu jammern«, hörte er eine andere, höhere Stimme. »Die Arbeit ist leicht, die Bezahlung gut. Das Essen ist super. Die Irren sind freundlich und still. Was ist denn daran so verkehrt?«
Es waren zwei Pfleger. Smithback konnte nicht anders: Er musste einfach stehen bleiben und lauschen.
»Das liegt daran, dass der Schuppen hier in der Walachei liegt. Oben auf einem Berg und nichts in der Nähe außer meilenweiter Wälder – und dann auch noch im Winter. Das macht einen doch ganz blöd im Kopf.«
»Vielleicht solltest du als Gast zurückkommen.« Der zweite Pfleger lachte laut auf.
»Es ist mir ernst«, kam die ärgerliche Antwort. »Kennst du Miss Javisham?«
»Die irre Neelie? Was soll mit der sein?«
»Weißt du, dass die immer behauptet, Leute zu sehen, die gar nicht da sind?«
»In diesem Laden sehen doch alle Gespenster.«
»Also, die hat mich so weit, dass auch ich Gespenster sehe. Es war heute Nachmittag. Ich bin gerade wieder rauf in den fünften Stock, als ich zufällig aus dem Treppenhausfenster gesehen hab. Da war jemand draußen, ich hätte es schwören können. Da draußen im Schnee.«
»Ja, klar.«
»Aber wenn ich’s dir sage. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Eine dunkle Gestalt, die zwischen den Bäumen rumgehuscht ist. Als ich noch mal hinsah, war sie weg.«
»Ja. Und wie viel Gläser Jack Daniels hattest du intus?«
»Keines. Es ist so, wie ich dir gesagt habe, dieses Haus ist …«
Smithback, der sich immer weiter bis zum Ende des Flurs vorgewagt hatte, kam aus dem Gleichgewicht und geriet ins Straucheln. Jetzt stand er auf dem Treppenabsatz. Die beiden Männer – Pfleger in ihrer düsteren schwarzen Tracht – stoben auseinander. Ihre Mienen verwandelten sich in emotionslose Masken.
»Können wir Ihnen helfen Mr – Jones?«, fragte einer der beiden.
»Nein, danke. Bin nur auf dem Weg zum Speisesaal.« Smithback begab sich die breite Treppe mit so viel Würde wie nur irgend möglich hinunter.
Der Speisesaal im zweiten Stock war ein großer Raum, der Smithback an einen Männerclub an der Park Avenue erinnerte. Zwar standen mindestens dreißig Tische darin, aber der Saal war derart groß, dass er mühelos Dutzende weitere hätte aufnehmen können. Jeder Tisch war mit einer gestärkten weißen Leinendecke und glänzendem – und extrem langweiligem – Silberbesteck
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