Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
Schicksal steht auf Messers Schneide. Wir steuern mit Höchstgeschwindigkeit auf die Katastrophe zu. Und rein praktisch – wie sollte ich dieses Schiff denn retten? Außerdem gilt, wie bei jeder Katastrophe: Jeder ist sich selbst der Nächste.«
»Glaubst du wirklich, du könntest dich selbst ertragen, wenn du all diese Menschen ihrem Schicksal überließest?«
»Natürlich könnte ich das. Und du auch.«
Constance stutzte. »Ich wäre mir da nicht so sicher«, murmelte sie. Tief im Inneren empfand sie seine Worte als zutiefst verführerisch – und das beunruhigte sie am meisten.
»Diese Menschen bedeuten uns nichts. Sie sind wie die Toten, von denen du in den Zeitungen liest. Wir werden einfach dieses schwimmende Gomorrha verlassen und nach New York zurückkehren. Wir werden uns in intellektuellen Beschäftigungen ergehen: Philosophie, Dichtung, Gespräche. Unsere Villa am Riverside Drive eignet sich hervorragend als Ort der Reflexion und der Zurückgezogenheit.« Er hielt inne. »Und war das nicht die Lebensweise deines ersten Vormunds, meines fernen Verwandten, Enoch Leng? Seine Verbrechen sind sehr viel ruchloser als unser kleiner Augenblick des Eigeninteresses. Und doch ist es ihm gelungen, sein Leben dem körperlichen Wohlbehagen und der geistigen Befriedigung zu widmen. Sein langes,
langes
Leben. Du weißt, dass das wahr ist, Constance.Du warst dort, bei ihm, die ganze Zeit.« Und wieder nickte er, als habe er gerade den alles entscheidenden Teil seiner Argumentation vorgebracht.
»Es stimmt. Ich war tatsächlich dort. Ich habe gesehen, wie die Gewissensbisse seinen Seelenfrieden langsam zerfressen haben wie Würmer modriges Holz. Am Ende war von dem brillanten Mann so wenig übrig, dass es fast ein Segen war, als …« Sie wollte nicht weitersprechen. Aber sie hatte sich entschieden. Pendergasts nihilistische Botschaft überzeugte sie einfach nicht. »Aloysius, es interessiert mich nicht, was du sagst. Du irrst auf fürchterliche Weise. Du hast immer anderen geholfen. Deine ganze berufliche Laufbahn hast du allein diesem Ziel gewidmet.«
»Genau! Und zu welchem Nutzen? Was hat es mir je eingebracht außer Frustration, Reue, Entfremdung, Kasteiung, Schmerz und Vorwürfe? Wenn ich das FBI verließe, glaubst du, irgendjemand würde mir eine Träne nachweinen? Teils dank meiner eigenen Unfähigkeit ist mein einziger Freund im Bureau eines höchst unangenehmen Todes gestorben. Nein, Constance!
Endlich
habe ich die bittere Wahrheit gefunden. Die ganze Zeit habe ich sinnlos geschuftet – die fruchtlose Arbeit des Sisyphos – und versucht, das zu retten, was letztlich unrettbar ist.« Und damit ließ er sich wieder in seinem Ledersessel nieder und nahm seine Teetasse zur Hand.
Constance sah ihn entsetzt an. »Das ist nicht der Aloysius Pendergast, den ich kenne. Du hast dich verändert. Seit du aus Blackburns Suite zurückgekommen bist, benimmst du dich ganz sonderbar.«
Pendergast nahm noch einen Schluck Tee und erklärte sehr von oben herab: »Ich werde dir sagen, was passiert ist. Es ist mir endlich wie Schuppen von den Augen gefallen.« Sorgfältig stellte er die Teetasse auf den Tisch zurück und beugte sich vor. »
Es
hat mich die Wahrheit erkennen lassen.«
»Es?«
»Das Agozyen. Es handelt sich hierbei um ein wirklich erstaunliches Objekt, Constance, ein Mandala, das einem erlaubt, die
wirkliche
Wahrheit im Zentrum der Welt zu schauen: die reine, unverfälschte Wahrheit. Eine so machtvolle Wahrheit, dass ein schwacher Geist daran zerbrechen würde. Aber für diejenigen unter uns mit einem starken Intellekt ist sie eine Erleuchtung. Jetzt
kenne
ich mich: Wer ich bin und – am wichtigsten –
was ich will
.«
»Weißt du denn nicht mehr, was die Mönche gesagt haben? Das Agozyen ist böse, ein finsteres Werkzeug der Vergeltung, dessen Ziel es ist, die Welt rein zu waschen.«
»Ja. Eine etwas doppeldeutige Wortwahl, nicht wahr? Die Welt
rein zu waschen
. Ich werde es natürlich nicht zu einem solchem Ziel einsetzen. Vielmehr werde ich es in der Bibliothek unserer Villa am Riverside Drive aufhängen, wo ich es mein Leben lang betrachten kann.« Pendergast lehnte sich zurück und nahm wieder seine Teetasse zur Hand. »Das Agozyen wird mich also in der Rettungsinsel begleiten. So wie du – vorausgesetzt, du kannst dich mit meinem Plan anfreunden.«
Aber Constance gab ihm keine Antwort.
»Die Zeit drängt. Die Zeit ist gekommen, dass du eine Entscheidung triffst: Bist du für mich …
Weitere Kostenlose Bücher