Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
linkischen Philistern erteilt hast, mit denen wir zwangsweise essen mussten, bewiesen, dass du bereits ein eindeutiges Urteil über die
Britannia
gefällt hattest. Und das zu Recht. Und deshalb frage ich dich noch einmal, andersherum: Ist dieses Schiff ein schwimmendes Denkmal der Habgier, Vulgarität und Dummheit der Menschen? Ist es nicht ein Palast krasser Begehrlichkeit, der es zu Recht verdient, niedergerissen zu werden?«
Er breitete die Arme aus, als wäre die Antwort offensichtlich.
Constance sah ihn verwirrt an. Seine Worte kamen ihr nicht gänzlich falsch vor. Sie war abgestoßen gewesen von den bourgeoisen Allüren und der schmerbäuchigen Vornehmheit der meisten Passagiere, die sie kennengelernt hatte. Und sie war schockiert und empört gewesen von den brutalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzung. Einige der Dinge, die Pendergast sagte, sprachen durchaus eine Saite in ihr an, erweckten und verstärkten ihre lang zurückgehaltenen misanthropischen Regungen.
»Constance«, fuhr Pendergast fort, »sieh es ein: Die einzigen beiden Menschen, die es wert sind, gerettet zu werden, sind wir selbst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du sprichst von den Passagieren. Was ist mit der Besatzung und dem Personal? Sie versuchen doch nur, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Verdienen sie es, zu sterben?«
Pendergast winkte ab. »Das sind entbehrliche Drohnen, Teil des großen Meeres der arbeitenden Bevölkerung; sie schwappen an die Gestade der Welt wie Wellen an den Strand und hinterlassen nichts.«
»Das kann nicht dein Ernst sein. Menschen bedeuten dir alles. Du hast dein ganzes Leben damit verbracht, das Leben anderer zu retten.«
»Dann habe ich mein Leben an ein nutzloses, ja frivoles Unterfangen vergeudet. In einem waren mein Bruder Diogenes und ich uns immer einig: dass es keine abscheulichere Wissenschaft gibt als die Anthropologie. Man stelle sich das nur einmal vor: das Leben dem Studium des Menschen zu widmen.« Er nahm Brocks Monographie vom Tisch, blätterte darin und reichte sie Constance. »Schau dir das mal an.«
Constance blickte auf die aufgeschlagene Seite. Darauf war die schwarz-weiße Reproduktion eines Ölgemäldes zu sehen: ein junger, hinreißend schöner Engel, der sich über einen verdutzt wirkenden Mann beugt und dessen Hand über eine Manuskriptseite führt.
»
Der heilige Matthäus und der Engel
. Kennst du das Bild?«
Sie sah ihn an, verwirrt. »Ja.«
»Dann weißt du auch, dass es auf dieser Erde nur wenige Bilder von größerer Erhabenheit gibt. Oder Schönheit. Schau dir mal diesen Ausdruck großer Anstrengung auf Matthäus’ Gesicht an – als ob sich jedes Wort des Evangeliums, das er schreibt, aus dem Innersten seines Wesens emporkämpfen würde. Und vergleiche es mit dem gelangweilten Gebaren des Engels, der ihm assistiert – die Art, wie er den Kopf hält; diese halb naive, halb schüchterne Stellung der Beine; das fast skandalös sinnliche Gesicht. Schau, wie Matthäus’ staubiger linker Fuß uns entgegentritt und die Ebene des Gemäldes fast durchbricht. Kein Wunder, dass der Mäzen das Bild abgelehnt hat! Aber selbst wenn der Engel effeminiert erscheint, genügt ein Blick auf die Kraft, die Herrlichkeit dieser prachtvollen Flügel, um uns daran zu erinnern, dass wir uns in der Nähe des Göttlichen befinden.« Er hielt kurz inne. »Weißt du, Constance, warum von allen Reproduktionen in dieser Monographie nur diese schwarz-weiß ist?«
»Nein.«
»Weil keine farbige Abbildung existiert. Das Gemälde wurde zerstört. Ja – dieser herrliche Ausdruck des schöpferischen Genies ist im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs untergegangen. Aber nun sage mir: Wenn ich zwischen diesem Gemälde und dem Leben Millionen nutzloser, unwissender, ephemerer Menschen – der Menschheit, von der du sagst, sie sei mir so wichtig – zu wählen hätte, glaubst du wirklich,
ich
hätte Lust, in diesem Inferno unterzugehen?« Er schob ihr das Bild hin.
Constance sah ihn entsetzt an. »Wie kannst du nur etwas so Abscheuliches sagen? Und was gibt dir das
Recht
dazu? Wieso bist du so anders als sonst?«
»Meine liebe Constance! Glaube nur keine Minute lang, dass ich mich für besser als den Rest der Horde halte. Ich bin der fundamentalen Fehler des bestialischen Menschen ebenso schuldig wie jeder andere. Und einer dieser Fehler ist das Eigeninteresse. Ich bin es wert, gerettet zu werden, weil ich will, dass mein Leben weitergeht – und weil ich etwas dafür tun kann. Mein
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