Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
stattfinden muss, bevor ein Wesen
stong pa nyid
– den Zustand der Reinen Leere – erreichen und mit dem universellen Geist verschmelzen kann.
Sie war dort; Pendergast war dort; und in der Mitte der Knoten, dabei, sich zu lösen. Das war alles.
Nach einem unbestimmten Zeitraum – es konnte sich um eine Sekunde handeln oder um tausend Jahre – lag die graue Seidenkordel in einem Haufen da, gelöst und locker aufgerollt. In seiner Mitte kam ein kleines, zerknittertes Stück Seide zum Vorschein, auf dem das geheime Gebet geschrieben worden war, das der alte Mönch in den Knoten gelegt hatte.
Constance las ganz genau. Dann sagte sie, langsam, psalmodierend, das Gebet auf, immer und immer wieder …
Währenddessen erweiterte sie ihr Bewusstsein hin zu dem losen Ende des Seils, das ihr am nächsten lag. Gleichzeitig war sie sich des Lichtscheins des Wesens ihr gegenüber gewahr, das sich auf die gleiche Weise auf die gelösten Kordel zu erweiterte.
Constance psalmodierte, die tiefen, beruhigenden Laute entwirrten ihr Ich, lösten sanft alle Bindungen an die materielle Welt. Sie spürte den Energiestrom, während ihr Geist die Kordel berührte und sich daran entlangbewegte, angezogen zu der Entität auf der anderen Seite, während
er
zu ihr hingezogen wurde. Sie bewegte sich entlang der zusammengerollten Kordel, kaum atmend, ihr Herz schlug mit begräbnisartiger Langsamkeit, kam näher, immer näher … Dann begegnete und verschmolz ihr Gedanke mit dem Schimmer des Anderen, und die letzte Stufe war erreicht.
Abrupt fand sie sich an einem bestimmten Ort wieder, ebenso fremd wie vertraut. Sie stand in einer kopfsteingepflasterten Straße zwischen eleganten Gaslaternen und blickte zu einer dunklen Villa mit geschlossenen Läden hinauf. Ein Gebäude von außerordentlicher Konzentration, errichtet allein aus reinen Gedanken, realer und echter als jeder Traum, den sie je geträumt hatte. Sie spürte die kühle Feuchtigkeit des nächtlichen Nebels auf ihrer Haut; hörte das Knarren und Rascheln von Insekten; roch Kohlenrauch und Ruß. Sie schaute zu der Villa hoch, durch den schmiedeeisernen Zaun, ihr Blick schweifte über das Mansardendach, die Erkerfenster und das Dachgeländer.
Nach kurzem Zögern trat sie durch das Tor in einen düsteren, feuchten Garten voller abgestorbener Blumen und dem Geruch nach Lehm. Sie ging weiter den Weg hinauf, auf den Säulenvorbau zu. Dahinter stand die doppelflügelige Tür einen Spalt offen, sie trat durch den Eingangsbereich und gelangte in die prachtvolle Eingangshalle. Ein Kristalllüster hing von der Decke, dunkel und bedrohlich, er klirrte leise, als würde er trotz der stehenden Luft im Hause durch Windstoß in Bewegung versetzt. Eine massive Tür führte in eine große Bibliothek, die Lehnstühle und Sofas leer, der Kamin dunkel und kalt. Eine andere Tür führte in eine Art Refektorium, vielleicht ein Ausstellungssaal; darin war es muckmäuschenstill.
Sie durchquerte die Eingangshalle, die Absätze ihrer Schuhe klickten auf dem Marmorfußboden, und stieg die breite Treppe zum Flur im ersten Stock hinauf. Wandteppiche und undeutlich zu erkennende Ölgemälde hingen an den Wänden, die sich bis ins finstere Herz des Hauses erstreckten, unterbrochen von den im Laufe der Zeit dunkel gewordenen Türen aus Eiche.
Sie blickte an der linken Wand entlang und ging weiter. Vor ihr, nicht ganz auf halber Strecke des langen Flurs, stand eine Tür offen – zerschlagen, der Türrahmen zertrümmert, Holzsplitter und verbogene Stücke aus Blei lagen auf dem Boden. Der gähnenden schwarzen Öffnung entströmte ein kalter, kellerähnlicher Gestank nach Schimmel und toten, schmierigen Tausendfüßlern.
Sie schauderte und ging rasch daran vorbei. Die Tür dahinter zog sie an. Sie war fast da.
Sie ergriff den Türknauf, drehte ihn. Mit leisem, knarrendem Laut schwang die Tür nach innen, und eine freundliche Wärme umfloss sie, hüllte sie ein mit einer angenehmen Empfindung, wie wenn man im Winter ein behagliches Haus betritt.
Vor ihr stand Aloysius Pendergast, wie üblich ganz in Schwarz gewandet, die Hände vor sich verschränkt, lächelnd.
»Herzlich willkommen.«
Das Zimmer war groß und wunderschön, die Wände mit Holz getäfelt. In einem marmornen Kamin prasselte ein Feuer, und neben einer antiken Siphonflasche und mehreren Bleikristallgläsern schlug eine alte Uhr auf dem Kaminsims die Stunden. Ein Hirschkopf an der Wand blickte aus Glasaugen über einen Schreibtisch, auf
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