Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
ihre Mission erfüllt ist. Aber das heißt nicht, dass sie nicht beherrscht werden kann.«
Pendergast zögerte. »Was willst du damit sagen?«
»Du hast die Literatur studiert. Du kennst dich in den Lehren aus. Eine
tulpa
ist chronisch unzuverlässig, unberechenbar.«
Pendergast antwortete nicht sofort.
»Sie kann zu einem speziellen Zweck heraufbeschworen werden. Aber wenn sie erst einmal herbeigerufen wurde, neigt sie dazu, umherzuschweifen, eigene Absichten zu entwickeln. Das ist auch der Grund, warum sie so sehr, sehr gefährlich sein kann, sobald sie – wie soll ich sagen? – verantwortungslos verwendet wird. Aber das kannst du zu deinem Vorteil nutzen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich verstehe.«
»Muss ich dir das wirklich erklären,
frater?
Ich habe dir doch gesagt: Es ist möglich, eine
tulpa
dem eigenen Willen zu unterwerfen. Du musst lediglich ihre Zielsetzung ändern.«
»Ich bin nicht in der Lage, irgendetwas zu ändern. Ich habe mit ihr gerungen – bis ans Ende meiner Kräfte gekämpft – und bin besiegt worden.«
Diogenes grinste. »Das sieht dir ähnlich, Aloysius. Du bist es so sehr gewohnt, dass dir alles leichtfällt, dass du dich bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten verhältst wie ein bockiges Kind.«
»Alles, was mich als Person ausmachte, ist aus mir herausgesogen worden, wie Mark aus einem Knochen. Es ist nichts mehr übrig.«
»Du irrst. Nur die äußere Schale wurde weggerissen, diese vermeintliche Superwaffe des Intellekts, die du dir unlängst zugelegt hast. Der Kern deines Seins bleibt bestehen – zumindest vorerst. Wäre er nicht mehr da, völlig verschwunden, würdest du es wissen – und wir würden jetzt nicht miteinander sprechen.«
»Was soll ich tun? Ich kann nicht mehr kämpfen.«
»Das ist genau das Problem. Du betrachtest es von der falschen Seite: als Kampf. Hast du alles vergessen, was die dich gelehrt haben?«
Einen Augenblick lang starrte Pendergast seinen Bruder nur verständnislos an. Dann begriff er, ganz plötzlich.
»Der Lama«, hauchte er.
Diogenes lächelte. »Bravo.«
»Wieso …« Pendergast zögerte, setzte wieder an. »Warum weißt du von diesen Dingen?«
»Du kennst sie auch. Für den Augenblick warst du nur zu … überspannt, um sie sehen zu können. Nun geh und sündige nicht mehr.«
Pendergast wandte den Blick von seinem Bruder ab und schaute auf die Streifen goldenen Lichts, die durch die Gittertür hereinfielen. Es erstaunte ihn ein wenig, dass er Angst hatte, dass er alles lieber täte, als durch diese Tür zu treten.
Er atmete tief durch und zwang sich, die Tür zu öffnen.
Abermals umfing ihn gähnende, leidenschaftliche Schwärze. Wieder näherte sich das hungrige, einhüllende Ding; wieder fühlte er die fürchterliche Fremdheit in seinem Inneren, wie sie durch seine Gedanken und durch seine Glieder fuhr. Es schlich sich in seine archaischsten Gefühle. Es war eine Schändung: intimer, gefräßiger und unersättlicher als alles, was er sich jemals vorgestellt hatte. Er fühlte sich mutterseelenallein, jenseits von Anteilnahme oder Beistand – und das war auf seine Weise schlimmer als jeder Schmerz.
Er atmete noch einmal tief durch, mobilisierte seine letzten Reserven körperlicher und emotionaler Kraft. Er würde nur eine Chance haben; danach würde er auf ewig verloren sein, völlig verzehrt.
Er leerte seinen Geist, so gut er konnte, schob das gefräßige Etwas zur Seite und erinnerte sich an die Lehren des Lamas über die Begierde. Er stellte sich einen See vor, ziemlich salzhaltig, präzise auf Körpertemperatur, von unbestimmter Farbe. Er visualisierte sich darauf treibend, völlig regungslos. Dann – und das war das Schwierigste – hörte er langsam auf zu kämpfen.
Fürchtest du die Auslöschung?,
fragte er sich.
Eine Pause.
Nein.
Kümmert es dich, wenn du in der Welt aufgehst?
Wieder eine Pause.
Nein.
Bist du bereit, alles aufzugeben?
Ja.
Dich dem Ding völlig hinzugeben?
Schneller jetzt:
Ja.
Dann bist du bereit.
Seine Glieder verkrampften sich in einem langen Schauer, dann entspannten sie sich. In seinem gesamten geistigen und körperlichen Sein – in jedem Muskel, jeder Synapse – spürte er, dass die
tulpa
zögerte. Es entstand ein merkwürdiger, völlig unaussprechlicher Moment der Stasis. Dann, langsam, lockerte das Ding seinen Griff.
Und währenddessen ließ Pendergast zu, dass ein neues Bild – einzeln, machtvoll, unausweichlich – sich in seinem Geist
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