Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
besaß die nötige Leidenschaft, die erforderliche Überzeugung – und das zählte am meisten. Fakt war, man hatte ihn sein Leben lang unterschätzt. Auch heute würde man ihn unterschätzen.
Und darauf zählte er.
Seit der ersten, abgebrochenen Demonstration war Plock unablässig tätig gewesen, er hatte im Verborgenen mit Organisationen in der ganzen Stadt, im Staat und selbst im Land Kontakt aufgenommen und die radikalsten Gruppen für die Demonstration heute Abend zusammengetrommelt. Und jetzt würde er die Früchte ernten. Über zwei Dutzend unterschiedliche Organisationen
– Menschen helfen Tieren, Die Veganische Armee, Amnestie ohne Grenzen, Die Grüne Brigade –
versammelten sich in diesem Moment in der West Side. Und es waren nicht mehr nur Vegetarier und Tierschützer. Die Morde an den beiden Journalisten und dem städtischen Beamten, dazu die Entführung von Nora Kelly, hatten die Leute auf erstaunliche Weise aktiviert. Mit dieser öffentlichen Aufmerksamkeit im Rücken hatte Plock einige radikale Gruppen mit wirklich ernstzunehmenden politischen Interessen hinter dem Ofen hervorgelockt. Einige hatten einander zwar misstrauisch beäugt – zum Beispiel waren jetzt
Waffen für alle
und
Amerika den Amerikanern
mit von der Partie –, aber dank seiner aufrührerischen Reden hatten alle im Ville den gemeinsamen Feind ausgemacht.
Dabei war er keine Risiken eingegangen. Er hatte alles perfekt aufeinander abgestimmt. Um zu vermeiden, dass man vorzeitig auseinandergetrieben oder von den Cops eingekesselt wurde, hatten sich die unterschiedlichen Gruppen an zehn vorher festgelegten Punkten versammelt: Wien Stadium, Dyckman House, High Bridge Park und andere. Auf diese Weise würden sie bei den Ordnungskräften nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen … bis Plock den Befehl geben würde und alle zu einer Gruppe verschmolzen. Und ab diesem Punkt wäre es dann zu spät, sie aufzuhalten. Es würde kein Zurückweichen mehr geben – dieses Mal nicht.
Während er sich an die erste Demonstration erinnerte, verhärteten sich seine Züge. Im Rückblick war es sehr gut gewesen, dass Esteban gekniffen hatte. Der Mann hatte seine Nützlichkeit überlebt. Er hatte getan, was getan werden musste, als prominentes Aushängeschild gedient, ihre Sichtbarkeit erhöht, ihnen die unbedingt nötigen Geldmittel verschafft, die Plock ermächtigten, eine für diese Sache ausreichend starke Truppe um sich zu scharen. Wäre Esteban heute dabei, er würde vermutlich zur Vorsicht raten, alle daran erinnern, dass es keinen Beweis für eine Geiselnahme gebe, keinen Beweis, dass das Ville hinter den Morden stecke.
Estebans ängstliche Nervosität hatte ihre letzte Aktion unterlaufen, aber, bei Gott, diese würde er nicht vereiteln. Dem Ville würde das Handwerk gelegt werden, ein für alle Mal. Der mutwilligen Grausamkeit, dem Abschlachten hilfloser Tiere und der Ermordung von Journalisten, die mit ihrem Anliegen sympathisierten, würde ein Ende gemacht werden.
Plock war auf einer Farm im Norden New Hampshires aufgewachsen. Als kleiner Junge war er jedes Jahr körperlich erkrankt, wenn die Zeit kam, die Lämmer und Schweine zu schlachten. Sein Vater hatte das nie verstanden, er hatte ihn verprügelt und als Drückeberger und Muttersöhnchen beschimpft, wenn er sich dem Mithelfen zu entziehen versuchte. Er war zu klein gewesen, um zurückzuschlagen. Er erinnerte sich, dass er zusah, wie sein Dad einem Huhn mit dem Beil den Kopf abschlug und dann lachte, während der unglückselige Vogel einen merkwürdigen, flatternden Tanz auf dem staubigen Feldweg aufführte und ihm das Blut aus dem durchtrennten Hals schoss. Das Bild verfolgte ihn seitdem bis in seine Träume. Sein Vater bestand darauf, dass sie die eigenen Tiere verspeisten, Fleisch zu jedem Essen, und verlangte, dass Rich seinen gerechten Anteil davon aß. Als Plocks Lieblingsschwein geschlachtet wurde, zwang ihn sein Vater, die fettigen Rippchen zu essen. Hinterher schlich er nach draußen und erbrach sich schier endlos hinter der Scheune. Tags darauf war Plock von zu Hause ausgezogen. Er machte sich nicht mal die Mühe, seine Sachen zu packen, nahm nur ein paar Bücher mit –
Schöne Neue Welt, Atlas wirft die Welt ab, 1984
– und brach in Richtung Süden auf.
Und er hatte nie zurückgeblickt. Sein Vater hatte ihm keine Liebe geschenkt, keine Unterstützung, hatte ihn nichts gelehrt – nichts.
Das stimmt nicht ganz,
dachte er, als er in Gedanken zum Ville
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