Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
Dunkelheit wäre ihr Verbündeter. Wenn er hereinkam … das wäre ihre einzige Chance. Sie musste bereit sein, blitzartig in Aktion zu treten. Sie würde geradewegs auf seine Augen zielen. Er war der Kerl, der ihren Ehemann umgebracht hatte – sie war sich da ganz sicher. Der Hass auf ihn erfüllte sie mit Kraft und Energie.
Sie ging die einzelnen Schritte in Gedanken durch, visualisierte die Türöffnung, ihren Sprung, sein Zurücktaumeln, ihre Daumen in seinen Augen. Und dann würde sie sich seine Waffe schnappen, sie ziehen und ihn töten …
Ein Geräusch unterbrach ihre Gedanken, ein ganz leises, das nicht zu identifizieren war. Wie eine Katze sprang sie zur anderen Seite der Tür und ging im Dunkeln in die Hocke, stellte dabei einen Fuß nach vorn, hockte dort fast wie eine Sprinterin in den Startblöcken, bereit, sich auf ihn zu stürzen. Sie hörte, wie ein Vorhängeschloss geöffnet, ein schwerer Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich einen Spalt, ein matter Lichtschein fiel auf den Boden. Die Tür stieß gegen ihren Fuß.
»Zeit fürs Kino«, sagte die Stimme. »Ich komme rein.« Das Licht des Camcorders ging an, tauchte ihre Zelle in gleißende Helligkeit, die Nora vorübergehend blendete. Sie wartete gespannt wie eine Feder und versuchte, den Blick zu fokussieren.
Plötzlich schwenkte das helle Licht um die Tür herum und schien ihr direkt ins Gesicht. Sie langte danach, stieß mit ausgestreckten Fingern auf den Kopf ihres Kerkermeisters zu. Aber das grelle Licht blendete sie, mit einem Seufzer packte der Mann ihre Handgelenke in einem schraubstockartigen Griff und ließ den Camcorder fallen. Sie spürte, wie sie mit großer Kraft zur Seite gerissen und zu Boden geworfen wurde und einen heftigen Tritt in den Magen bekam. Der Camcorder war klappernd zu Boden gefallen, aber der Mann hob ihn sofort wieder auf und zog sich einige Schritte zurück.
Sie blickte vom Boden auf, keuchte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Wieder war das Licht auf sie gerichtet, das Objektiv darunter surrte; der Mann dahinter blieb völlig unsichtbar im Dunkeln. Wieder schoss ihr der unerträgliche Gedanke durch den Kopf:
Das ist der Kerl, der meinen Mann umgebracht hat
.
Sie atmete tief durch, stand auf und rannte abermals gegen den Kerl hinter dem Camcorder an, schlug auf ihn ein, aber er war darauf gefasst. Ein Hieb traf sie seitlich am Kopf. Als Nächstes wusste sie nur, dass sie am Boden lag. Wieder klingelten ihr die Ohren und sah sie Sternchen.
Das Licht am Camcorder ging aus, die Gestalt zog sich zurück, die Tür schloss sich. Nora rappelte sich auf, hockte sich auf die Knie, plötzlich schwach, ihr Kopf pochte, aber der Riegel wurde vorgeschoben, bevor sie ganz aufstehen konnte. Sie legte die Hände an die Tür und zog sich daran hoch – was wehtat.
»Du bist ein toter Mann«, keuchte sie und donnerte mit der Faust gegen die Tür. »Ich schwöre es, ich bring dich um.«
»Es ist genau umgekehrt, kleine Wildkatze«, ließ sich die Stimme vernehmen. »Erwarte mich – bald.«
[home]
59
D’Agosta stand ganz hinten im Einsatzraum, die Arme vor der Brust gefaltet, und schaute auf die Reihen der sitzenden Beamten vor sich, die Harry Chislett zuhörten, der sie gebieterisch über den bevorstehenden »Vorbeimarsch« informierte – so nannte dieser eingebildete Fatzke das –, der vor dem Ville stattfinden sollte.
Vorbeimarsch, von wegen,
dachte D’Agosta ungeduldig. Dass Esteban und Plock eine Genehmigung für die Demonstration bekommen hatten, hieß ja noch lange nicht, dass sie vorhatten, gemessenen Schritts und »Give peace a chance« singend am Ville aufzutauchen. D’Agosta hatte gesehen, zu welch hässlichen Ausschreitungen es während der ersten Demonstration gekommen war und wie schnell. Chislett hatte das nicht mitbekommen – er war praktischerweise gegangen, bevor der verdammte Protest losging. Und jetzt stand er hier, zeigte großspurig auf die Schautafeln auf einer Flipchart und redete so ruhig über Schutz, Eindämmung der Demonstration und diverse taktische Finessen, als ginge es um einen Figurentanz der Töchter Amerikas.
Während er zuhörte, wie die einfallslosen Einsatzpläne erklärt wurden, ballten sich D’Agostas Hände zu Fäusten. Er hatte Chislett zu erklären versucht, dass Nora Kelly möglicherweise im Ville gefangen gehalten wurde und jeder Ausbruch von Gewalt seitens der Demonstranten ihren Tod bedeuten konnte. Es gehe hier um mehr als nur Logistik; bei
Weitere Kostenlose Bücher