Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
dieses Spießrutenlaufen zwischen den Kollegen mit ihren gutgemeinten Beileidsbezeugungen, ihren tragischen Mienen, den Angeboten, zu helfen, den Vorschlägen, sich doch ein paar Tage freizunehmen. Ein paar Tage freinehmen? Um was zu tun? In die Wohnung zurückzukehren, in der ihr Mann ermordet worden war, und dort herumzusitzen, allein mit ihren Gedanken? Tatsache war, dass sie vom Krankenhaus auf direktem Weg ins Museum gefahren war. Ungeachtet dessen, was sie D’Agosta gesagt hatte, sie ertrug es einfach nicht, in die Wohnung zurückzukehren – zumindest nicht sofort.
Sie öffnete die Augen wieder. Das Labor war so, wie sie es vor zwei Tagen zurückgelassen hatte. Und dennoch sah es so anders aus. Alles seit dem Mord schien anders zu sein. Es war, als habe sich die ganze Welt verändert – durch und durch.
Verärgert versuchte sie, ihre fruchtlosen Gedanken zu verdrängen. Sie sah auf die Uhr. Jetzt konnte sie nur eines retten: das Eintauchen in ihre Arbeit. Das vollständige, totale Eintauchen.
Sie schloss die Tür zum Labor, dann schaltete sie den Mac an. Sobald er hochgefahren war, öffnete sie die Datenbank mit ihren Tonscherben. Sie schloss eine Schublade mit Ablagekästen auf und zog einen davon heraus, so dass Dutzende von Plastikbeuteln mit nummerierten Tonscherben zum Vorschein kamen. Sie öffnete den ersten Beutel, legte die Scherben auf den Filzstoff auf der Tischplatte und fing an, sie nach Typus, Datum und Fundort zu klassifizieren. Eine langweilige, stupide Arbeit, aber genau das brauchte sie jetzt. Stupide Arbeit, um zu vergessen.
Nach einer halben Stunde unterbrach sie sich. Es war grabesstill in ihrem Kellergeschoss-Labor, nur die Luftumwälzungsanlage zischte leise wie ein stetes Flüstern in der Dunkelheit. Der Albtraum im Krankenhaus hatte Nora verängstigt – der Traum war so real gewesen. Die meisten Träume verblassten mit der Zeit, aber dieser schien, sofern das möglich war, nur noch klarer zu werden.
Sie schüttelte den Kopf, verärgert darüber, dass ihre Gedanken immer wieder um die gleichen abscheulichen Dinge kreisten. Sie drückte kräftiger als erforderlich auf die Tasten, beendete die Eingabe der Daten der vorliegenden Charge und speicherte alles ab. Dann machte sie sich daran, die Scherben einzupacken und den Tisch für die nächsten Beutel voll Scherben freizuräumen.
Sie hörte ein leises Klopfen an der Tür.
Bitte nicht noch ein Kondolenzbesuch
. Nora blickte hinüber zu dem kleinen Glasfenster in der Tür, aber der dahinterliegende Flur war so schummrig, dass sie nichts erkennen konnte. Nach einem Augenblick stand sie auf, ging zur Tür und legte die Hand auf den Türknauf. Dann hielt sie inne.
»Wer ist da?«
»Primus Hornby.«
Etwas erschrocken schloss Nora die Tür auf. Vor ihr stand der kleine, kugelrunde Kurator der Anthropologischen Abteilung, eine Morgenzeitung unter den dicken kurzen Arm geklemmt, und strich sich mit der anderen Hand nervös über die Glatze. »Ich bin froh, dass ich Sie gefunden habe. Darf ich?«
Widerstrebend machte Nora einen Schritt zur Seite, um Hornby hereinzulassen. Der ein wenig ungepflegte, kleine Hornby trat ein und drehte sich um. »Nora, es tut mir ja so
furchtbar
leid.« Wieder strich er sich über die Glatze. Sie gab ihm keine Antwort – sie konnte es einfach nicht. Weder wusste sie,
was
sie sagen, noch,
wie
sie es sagen sollte.
»Ich freue mich, dass Sie an Ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sind. Die Arbeit heilt alle Wunden, finde ich.«
»Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.« Vielleicht würde er ja jetzt abhauen. Aber er schien etwas auf dem Herzen zu haben.
»Vor einigen Jahren, ich war auf Forschungsreise in Haiti, habe ich meine Frau verloren. Sie kam bei einem Autounfall in Kalifornien ums Leben, während meiner Abwesenheit. Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen.«
»Vielen Dank, Primus.«
Er ging weiter ins Labor hinein. »Tonscherben, wie ich sehe. Wie wunderschön sie sind. Ein Beispiel für das Streben des Menschen, auch die alltäglichsten Gegenstände zu verschönern.«
»Ja, das stimmt.«
Wann haut er endlich ab?
Im nächsten Augenblick hatte Nora ein schlechtes Gewissen, weil sie so abweisend auf ihn reagierte. Auf seine Weise versuchte er doch nur freundlich zu sein. Aber es war einfach nicht die Art, wie sie trauerte, all dieses Gerede, dieses Mitleid, diese Beileidsbezeugungen.
»Verzeihen Sie mir, Nora«, er zögerte, »aber ich muss das fragen. Haben Sie vor, Ihren Mann beerdigen oder
Weitere Kostenlose Bücher