Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
Hinter den Türen, an denen sie vorbeikamen, ertönte Murmeln, Stöhnen, verrückt klingendes lautes Reden, Schnarchen.
Die Frau blieb an einer offenen Tür stehen und klopfte an. »Mrs. Fearing?«
»Verschwinden Sie«, lautete die kraftlose Antwort.
»Hier sind zwei Herren, die Sie besuchen möchten, Mrs. Fearing!« Jo-Ann bemühte sich, gute Laune in ihre Stimme zu legen.
»Ich will niemanden sehen«, ließ sich die Stimme aus dem Zimmer vernehmen.
»Vielen Dank, Jo-Ann«, sagte Pendergast in seinem charmantesten Tonfall. »Ab jetzt schaffen wir das allein. Sie sind ein Schatz.«
Sie betraten das Zimmer. Es war klein, darin ein Minimum an Möbeln und persönlichen Dingen. Beherrscht wurde es von einem Krankenhausbett, das mitten auf dem Linoleumboden stand. Elegant ließ sich Pendergast auf einem Stuhl neben dem Bett nieder.
»Verschwinden Sie«, wiederholte die Frau. Ihre Stimme klang schwach und ohne Überzeugung. Sie lag im Bett, ihr schlohweißes Haar war unfrisiert, die einst blauen Augen fast weiß, die Haut so zart und durchscheinend wie Pergament. D’Agosta sah die schimmernde Rundung ihrer Kopfhaut unter dem strähnigen Haar. Auf einem Krankenhaustisch mit Rollen standen schmutzige Teller. Das Mittagessen, das Stunden zurücklag.
»Hallo, Gladys«, sagte Pendergast und fasste ihre Hand. »Wie geht es Ihnen?«
»Lausig.«
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Nein.«
Pendergast drückte ihre Hand. »Erinnern Sie sich an Ihren ersten Teddybären?«
Sie starrte ihn aus ihren trüben Augen an, erschöpft, verständnislos.
»Ihr erster Teddybär. Erinnern Sie sich noch an ihn?«
Langsames, verwundertes Nicken.
»Und wie hieß er?«
Langes Schweigen. Dann sagte sie: »Molly.«
»Ein schöner Name. Was ist denn mit Molly passiert?«
Noch eine lange Pause. »Ich weiß es nicht.«
»Und wer hat Ihnen Molly geschenkt?«
»Daddy. Zu Weihnachten.«
D’Agosta sah, dass ein wenig Lebendigkeit in ihren Augen aufflackerte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was Pendergast mit dieser bizarren Art von Befragung bezweckte.
»Was für ein wundervolles Geschenk Molly gewesen sein muss«, sagte Pendergast. »Erzählen Sie mir von ihr.«
»Sie war aus Socken zusammengenäht und mit Lumpen ausgestopft. Sie hatte eine Fliege aufgemalt bekommen. Ich habe diesen Teddy geliebt. Ich habe ihn jede Nacht mit ins Bett genommen. Wenn ich Molly bei mir hatte, habe ich mich geborgen gefühlt. Niemand konnte mir wehtun.« Ein strahlendes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht der alten Dame; in dem einen Auge stieg eine Träne auf und lief ihr die Wange hinunter.
Rasch bot Pendergast ihr ein Papiertaschentuch aus einem Päckchen an, das er aus der Hosentasche hervorgeholt hatte. Sie nahm es, betupfte sich die Augen und schneuzte sich. »Molly«, wiederholte sie mit abwesender Stimme. »Was würde ich dafür geben, diesen albernen alten ausgestopften Bären wieder im Arm halten zu können.« Zum ersten Mal schien sie den Blick auf Pendergast zu richten. »Wer sind Sie?«
»Ein Freund. Ich bin nur gekommen, um ein wenig mit Ihnen zu plaudern.« Er erhob sich von seinem Stuhl.
»Müssen Sie schon gehen?«
»Ich fürchte, ja.«
»Kommen Sie doch mal wieder. Sie gefallen mir. Sie sind ein feiner junger Mann.«
»Vielen Dank. Ich will es versuchen.«
Kurz bevor sie das Pflegeheim verließen, reichte Pendergast Jo-Ann seine Visitenkarte. »Wenn jemand wegen Mrs. Fearing anruft, wären Sie dann so freundlich, es mich wissen zu lassen?«
»Selbstverständlich!« Sie nahm die Visitenkarte geradezu ehrfürchtig entgegen.
Kurz darauf standen sie vor dem Eingang des Heims, auf dem schäbigen, leeren Parkplatz, der Rolls glitt heran, um sie abzuholen. Pendergast hielt D’Agosta die Tür auf. Eine Viertelstunde später rollten sie auf der Interstate 87 nach New York zurück.
»Ist Ihnen das alte Gemälde auf dem Flur vor Mrs. Fearings Zimmer aufgefallen?«, fragte Pendergast. »Ich glaube, es handelt sich um einen echten Bierstadt, der unbedingt restauriert werden müsste.«
D’Agosta schüttelte den Kopf. »Wollen Sie mir nun endlich verraten, worum es da eben ging, oder bereitet es Ihnen Vergnügen, mich im Dunkeln tappen zu lassen?«
Mit einem belustigten Funkeln im Blick holte Pendergast eine Reagenzflasche aus seiner Manteltasche. In dem Gefäß steckte ein feuchtes Papiertaschentuch.
D’Agosta starrte darauf. Er hatte nicht mal mitbekommen, dass Pendergast das benutzte Papiertaschentuch an
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