Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
wecken?«
Pendergast machte eine Viertelminute lang weiter, bis mindestens ein Dutzend Leute aus den Fenstern und Türen die Straße herauf und herunter blickten. »Nein«, erwiderte er, gab nicht mehr ganz so heftig Vollgas und ließ den Motor zurück in den Leerlauf rumpeln. »Ich glaube, die Lebenden dürften genügen.« Rasch nahm er die Gesichter, die ihnen entgegenblickten, in Augenschein. »Zu jung«, sagte er über eine Frau und schüttelte den Kopf, »und der dort, der arme Kerl, ist eindeutig zu dumm … Ah. Der da, der könnte uns vielleicht helfen. Kommen Sie, Vincent.« Pendergast stieg aus und schlenderte die Straße hinunter bis zum dritten Haus auf der linken Seite, wo ein ungefähr sechzig Jahre alter Mann im gelben Hemd auf der Vordertreppe saß und ihnen missmutig entgegensah. In der einen fleischigen Hand hielt er eine Fernsehfernbedienung, in der anderen eine Flasche Bier.
Plötzlich begriff D’Agosta, warum sich Pendergast für diese Fahrt für den Porsche seiner Frau entschieden hatte.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Pendergast, während er sich dem Haus näherte. »Können Sie mir vielleicht zufällig sagen, ob Sie dieses Automobil wiedererkennen?«
»Ach, stecken Sie sich das Ding doch in den Hintern«, sagte der Mann, drehte sich um und ging ins Haus zurück, wobei er die Tür laut und vernehmlich hinter sich zuschlug.
D’Agosta zog sich die Hose hoch. »Soll ich den fetten Drecksack wieder aus dem Haus zerren?«
Pendergast schüttelte den Kopf. »Ist nicht nötig, Vincent.« Er drehte sich um und betrachtete das Restaurant. Eine alte, korpulente Frau im fadenscheinigen Hauskleid war aus der Küche getreten und auf der von zwei pinkfarbenen Plastikflamingos flankierten Veranda stehen geblieben. In der einen Hand hielt sie eine Zeitschrift, in der anderen einen Zigarillo und musterte Pendergast und D’Agosta durch eine altmodische Brille mit großen Gläsern. »Vielleicht haben wir ja gerade eben den Vogel aufgescheucht, hinter dem ich her bin.«
Sie gingen zu dem maroden Parkplatz und der Küchentür von
Jake’s Chowhouse
zurück. Die Frau beobachtete ihr Näherkommen völlig regungslos und ohne dass sich ihre Miene sichtbar veränderte
»Guten Tag, Ma’am«, sagte Pendergast und verneigte sich knapp.
»Selber Tag.«
»Sind Sie zufällig die Eigentümerin dieses schönen Lokals?«
»Könnte sein«, sagte sie und nahm einen tiefen Zug an ihrem Zigarillo. Der Zigarillo steckte, wie D’Agosta auffiel, in einer weißen Plastikspitze.
Pendergast zeigte auf den Spyder. »Und könnte es auch sein, dass Sie dieses Automobil wiedererkennen?«
Sie wandte den Blick von ihnen ab und spähte durch ihre verschmutzte Brille auf den Wagen. Dann schaute sie wieder zu ihnen hin. »Könnte sein.«
Schweigen. D’Agosta hörte, wie erst ein Fenster und dann eine Tür zugeschlagen wurden.
»Entschuldigen Sie, wie unachtsam von mir«, sagte Pendergast plötzlich. »Ihnen Ihre kostbare Zeit ohne Vergütung zu stehlen.« Wie von Zauberhand erschien ein Zwanzig-Dollar-Schein in Pendergasts Hand, den er der Frau entgegenhielt. Zu D’Agostas Verwunderung pflückte sie den Schein Pendergast aus den Fingern und steckte ihn sich in das zwar schrumpelige, aber dennoch volle Dekolleté.
»Ich hab das Auto dreimal gesehen«, sagte die Frau. »Mein Sohn war ganz verrückt nach diesen ausländischen Sportwagen. Er hat hinterm Getränketresen gearbeitet. Er ist vor ein paar Jahren bei einem Verkehrsunfall außerhalb der Stadt ums Leben gekommen. Aber egal, als der Wagen das erste Mal hier aufgekreuzt ist, ist mein Sohn fast übergeschnappt. Hat alle dazu gebracht, dass sie alles stehen und liegen lassen, damit sie sich den Wagen anschauen.«
»Erinnern Sie sich noch an den Fahrer?«
»Das war ’ne junge Frau. Ziemlich hübsches Ding.«
»Sie erinnern sich nicht zufällig, was sie bestellt hat?«, fragte Pendergast.
»Das vergess ich wohl mein Lebtag nicht. Eine Egg Cream. Sie hat gesagt, dass sie dafür aus New Orleans hergekommen ist. Man stelle sich das mal vor – so ein weiter Weg für eine Egg Cream.«
Wieder Schweigen, diesmal allerdings kürzer.
»Sie sprachen von drei Malen«, sagte Pendergast. »Was war mit dem letzten Mal?«
Die Frau sog erneut an ihrem Zigarillo, hielt einen Moment inne, um in ihrem Gedächtnis zu kramen. »Bei dem Mal ist die Frau zu Fuß gekommen. Sie hatte eine Reifenpanne.«
»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem ausgezeichneten Erinnerungsvermögen,
Weitere Kostenlose Bücher