Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Ma’am.«
»Wie gesagt, so ein Auto – oder so eine Dame – vergisst man nicht so schnell wieder. Mein Henry hat ihr die Egg Cream umsonst serviert. Sie ist auf den Hof gefahren und hat erlaubt, dass er sich hinters Steuer setzt. Fahren hat sie ihn allerdings nicht lassen. Hat gesagt, sie sei in Eile.«
»Ah. Die Frau befand sich also auf der Durchreise?«
»Sie hat gesagt, sie hätte sich verfahren, hätte die Abzweigung nach Caledonia nicht finden können.«
»Caledonia? Die Stadt kenne ich nicht.«
»Das ist keine Stadt – ich rede vom Staatsforst Caledonia. Die Straße war damals nicht ausgeschildert. Und heute auch noch nicht.«
Sollte Pendergast aufgeregt sein, so ließ er es sich nicht anmerken. Auf D’Agosta wirkten Pendergasts Gesten, während er der alten Frau noch einen Zigarillo ansteckte, fast ein wenig gelangweilt.
»Und dort wollte die Frau hin?«, fragte er und steckte das Feuerzeug wieder ein. »Zu diesem Staatsforst?«
Die Frau nahm den Zigarillo aus dem Mund, betrachtete ihn, machte ein paar Kaubewegungen und steckte sich dann die Spitze zwischen die Lippen, als ob sie eine Schraube in eine Wand drehte. »Nee.«
»Darf ich fragen, wohin die Frau wollte?«
Die Frau tat mit großem Aufwand so, als versuche sie sich zu erinnern. »Mal überlegen … Das ist schon so lange her …« Das exzellente Gedächtnis ließ jählings nach.
Wieder tauchte ein Zwanzig-Dollar-Schein auf; wieder wurde er schnell in die gleiche Hautfalte gesteckt. Sofort sagte die Frau: »Sunflower.«
»Sunflower?«, wiederholte Pendergast.
Die Frau nickte. »Sunflower in Louisiana. Knapp zwei Meilen hinter der Grenze. Nehmen Sie die Abzweigung nach Bogalusa, kurz vor dem Sumpfgebiet.« Sie zeigte in die Richtung.
»Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Pendergast wandte sich D’Agosta zu. »Vincent, kommen Sie, wir wollen keine Zeit verlieren.«
Während sie mit großen Schritten zum Auto zurückgingen, rief die Frau: »Wenn Sie den alten Minenschacht passiert haben, rechts abbiegen!«
24
Sunflower, Louisiana
»Wissen Sie schon, was Sie möchten, junger Mann?«, fragte die Kellnerin.
D’Agosta legte die Speisekarte auf den Tisch zurück. »Den Wels.«
»Frittiert, im Ofen gebacken, gebraten oder gegrillt?«
»Gegrillt, nehme ich an.«
»Ausgezeichnete Wahl.« Sie notierte sich die Bestellung auf ihrem Notizblock und wandte den Kopf. »Und Sie, Sir?«
»Die Fischsuppe«, sagte Pendergast. »Aber ohne das Kartoffelpüree.«
»Kein Problem.« Sie nahm auch diese Bestellung auf, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und schritt in ihren bequemen weißen Schuhen davon.
D’Agosta schaute ihr nach, wie sie mit den Hüften wackelnd in Richtung Küche ging. Seufzend trank er einen Schluck von seinem Bier. Es war ein langer, ermüdender Nachmittag gewesen. Sunflower im Bundesstaat Louisiana, eine Stadt mit ungefähr dreitausend Einwohnern, war auf der einen Seite von einem Eichenwald und auf der anderen von einem riesigen Zypressensumpf, bekannt als Black Brake, umgeben. Der Ort war völlig nichtssagend: kleine, schäbige Häuser mit Lattenzäunen davor, abgewetzte Bürgersteige, die ausgebessert werden mussten, Redbone-Jagdhunde, die auf den Vorderveranden dösten. Ein heruntergekommenes, von der Außenwelt vergessenes Nest mit hartgesottenen, hart arbeitenden Einwohnern.
Pendergast und D’Agosta waren im einzigen Hotel der Stadt abgestiegen und anschließend getrennter Wege gegangen; jeder hatte aufzudecken versucht, warum Helen Pendergast eine dreitätige Pilgerreise zu einem so entlegenen Fleckchen Erde angetreten hatte.
Doch das Glück, das sie bislang gehabt hatten, hatte sie in Sunflower offenbar verlassen. D’Agosta hatte fünf fruchtlose Stunden damit zugebracht, in leere Gesichter zu blicken und in Sackgassen zu geraten. Es gab dort keine Kunsthändler oder Museen, keine Privatsammlungen oder historische Gesellschaften. Niemand erinnerte sich, Helen gesehen zu haben. Das Foto, das er herumgezeigt hatte, löste nur ausdruckslose Mienen aus. Nicht einmal der Porsche half der Erinnerung der Leute auf die Sprünge. John James Audubon hatte sich, wie ihre Nachforschungen zeigten, niemals in dieser Gegend von Louisiana aufgehalten.
Als D’Agosta sich schließlich mit Pendergast im kleinen Restaurant des Hotels zum Abendessen traf, war er fast genauso niedergeschlagen, wie Pendergast an jenem Morgen gewirkt hatte. Und als wollte der Himmel seiner Stimmung entsprechen, waren dunkle
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