Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
stellen.« Proctor ließ sich auf einem Stuhl nieder, schlug das Buch auf, räusperte sich und begann zu lesen:
»Ich kann es ihnen nicht verdenken. Schließlich braucht man kein teleskopisches Sehvermögen, um ein Wildschwein oder einen Bären zu schießen …«
Plötzlich spürte er hinter sich irgendetwas: eine Präsenz. Blitzartig drehte er sich um und sprang auf, griff zur Waffe, aber die Gestalt verschwand wieder in der Dunkelheit des Flurs, noch bevor seine Hand die Waffe berührte. Aber das Gesicht, das er gesehen hatte, blieb in seinem Geist eingeprägt. Es war Tristrams Gesicht – nur markanter und schärfer geschnitten.
Alban.
42
D as Büro von Supervisory Special Agent Peter S. Joyce zählte zu den unordentlichsten im großen Gebäude am Federal Plaza 26. Die Regale waren mit Büchern über amerikanische Geschichte, das Justizsystem und nautische Themen gefüllt; die Wände zierten Fotos seiner wettererprobten, vierunddreißig Fuß langen Slup, der Burden of Proof. Joyce’ Schreibtisch war allerdings völlig leer, so wie das Deck eines Schiffs, das wegen eines herannahenden Sturms geräumt worden war. Das einzige Fenster des Büros ging hinaus in die Nacht von Lower Manhattan – Joyce war ein eingefleischter Nachtarbeiter und sparte sich die wichtigste Arbeit des Tages immer bis zum Schluss auf.
Es klopfte leise an der Tür.
»Herein«, sagte Joyce.
Die Tür öffnete sich, und Special Agent Pendergast betrat das Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich, dann setzte er sich nach einigen Schritten auf den einzigen Stuhl, der vor Joyce’ Schreibtisch stand.
Joyce war ein klein wenig verärgert, dass der Mann ohne Aufforderung Platz genommen hatte, ließ sich aber nichts anmerken. Er hatte Wichtigeres zu sagen.
»Agent Pendergast. In den drei Jahren seit meiner Versetzung in das New Yorker Büro habe ich Ihr, sagen wir mal, unkonventionelles Verhalten als Agent geduldet – oft gegen den Rat von anderen. Mehr als einmal habe ich mich für Sie starkgemacht, Ihre Methoden unterstützt, wenn andere Sie vor den Chef zitieren wollten. Ich habe das aus verschiedenen Gründen getan. Ich bin kein Paragraphenreiter. Ich bin kein Freund der Neigung des FBI zu übermäßiger Bürokratie. Ich bin mehr an Ergebnissen interessiert – und in der Hinsicht haben Sie mich nur selten enttäuscht. Mag sein, dass Sie unkonventionell agieren, aber Sie sind verdammt effektiv. Ihre militärische Erfahrung ist enorm beeindruckend – wenigstens nach dem zu urteilen, was ich von den nicht geheimen Berichten in Ihrer Personalakte gesehen habe, die der verstorbene Michael Decker geschrieben hat, einer der am höchsten ausgezeichneten und geehrten Agenten in jüngerer Zeit. Ich habe oft an dieses Lob zurückgedacht, wenn Beschwerden wegen Ihrer Methoden über meinen Schreibtisch gegangen sind.« Er lehnte sich vor, legte die Arme auf den Schreibtisch und verschränkte die Finger. »Aber jetzt, Agent Pendergast, haben Sie etwas getan, das ich nicht ignorieren kann – und das ich nicht tolerieren kann. Sie haben die Grenze weit, sehr weit überschritten.«
»Beziehen Sie sich auf Agent Gibbs’ Dienstaufsichtsbeschwerde?«, fragte Pendergast.
Möglicherweise war Joyce von der Frage überrascht, aber er zeigte es nicht. »Nur zum Teil.« Er zögerte. »Ich bin weder ein Freund von Agent Gibbs noch der AfV. Seine Behauptungen über Ihr eigenmächtiges Handeln, dass Sie nicht zusammenarbeiteten, von den üblichen Vorgehensweisen abwichen, kein Teamplayer seien, interessieren mich nicht wirklich.« Er machte eine abfällige Geste. »Aber seine anderen Vorwürfe sind gravierender. Zum Beispiel, dass Sie sich in diesem Fall engagiert haben, ohne eine offizielle Autorisierung abzuwarten. Gerade Sie sollten wissen, dass Gibbs nur deshalb in dem Fall ermittelt, weil die New Yorker Polizei um die Hilfe der AfV gebeten hat. Sie sind den Verhaltenswissenschaften nicht angeschlossen – was Sie mit diesem Fall zu tun haben, ist nicht ganz klar, und Ihr Bemühen, ihm zugeteilt zu werden, hat einige Leute hier schwer verärgert. Aber selbst das hätte ich vielleicht übergehen können, aber Ihren ungeheuerlichsten Verstoß kann ich einfach nicht ignorieren.«
»Als da wäre?«
»Eine Information von entscheidender Bedeutung für den Fall zurückzuhalten.«
»Und darf ich fragen, worum es sich bei dieser Information handelt?«
»Dass der Hotel-Mörder Ihr eigener Sohn ist.«
Pendergast erstarrte.
»Gibbs vermutete, dass Sie
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