Pendragon - Der Anfang
Bis auf die hellgelb gestrichenen Wände sah es hier wie in einem amerikanischen Apartmenthaus aus. Es gab fünf Stockwerke mit jeweils zehn Wohnungen. Spader kannte den Weg. Wir kletterten die Treppe bis zur fünften Etage empor und gingen zur Tür am Ende des Gangs. Dort blieb Spader
zögernd stehen. Sosehr er sich danach sehnte, die Wohnung zu betreten, so sehr fürchtete er sich vor dem, was er dort vorfinden könnte. Er blickte uns an. Onkel Press nickte aufmunternd.
Spader klopfte an die Tür. »Hobey-ho!«, rief er aufgeregt.
Nichts rührte sich. Er klopfte noch einmal.
»Mum?«
Keine Schritte näherten sich der Tür. Niemand fragte, wer da wäre. Ich hoffte inständig, dass seine Mutter zum Einkaufen gegangen war, ein Nickerchen machte oder Freunde besuchte.
Er sah uns an und drehte am Türknauf. Der Knauf ließ sich bewegen – die Tür war offen. Bestimmt klopfte Spaders Herz ebenso schnell wie meines. Er holte tief Luft und trat ein. Onkel Press und ich blieben dicht hinter ihm.
Eines kann ich euch verraten, Freunde: Es war schlimm genug, so etwas einmal zu erleben, aber ich hätte nie gedacht, es ein zweites Mal mitmachen zu müssen.
Die Wohnung war leer. Nirgendwo stand ein Möbelstück. Kein Bild hing an der Wand. Es gab keinen Hinweis darauf, dass hier jemals jemand gelebt hatte. Ich dachte an mein Entsetzen, als ich vor dem leeren Grundstück in Stony Brook gestanden und realisiert hatte, dass mein Haus spurlos verschwunden war. Wenn jemand wusste, was in Spader vorging, dann ich.
Er starrte fassungslos die leeren Räume an. Onkel Press legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach die magischen Worte: »Sei nicht traurig. Es hat so sein sollen.«
Spader wich wütend vor ihm zurück.
»Was soll das?«, schrie er. »Wo ist sie?«
»Sie ist nicht tot, Spader«, erklärte Onkel Press. »Du bist jetzt ein Reisender. Deshalb war es Zeit für sie weiterzuziehen.«
Spader blickte ihn völlig verstört an. Zugegebenermaßen hatte ich das mit dem Verschwinden der Familienangehörigen von Reisenden auch noch nicht so ganz begriffen.
»Dann erkläre uns, wo sie ist«, bat ich. »Und wenn wir schon dabei sind: Wo ist meine Familie?«
Onkel Press verzog das Gesicht. Natürlich wusste er, wo sie waren, wollte es uns aber aus irgendeinem Grund nicht verraten.
»Spader, ich sage dir jetzt das Gleiche, was ich auch Bobby gesagt habe, als seine Familie verschwand: Es war deine Bestimmung, ein Reisender zu werden. Deine Eltern zogen dich auf und halfen dir, der zu werden, der du jetzt bist. Und nun sind sie selbst auf eine Reise gegangen. Eines Tages werdet ihr sie wiedersehen, das verspreche ich euch.«
»Und was ist mit meinem Vater?«, wollte Spader wissen. »Er ist auf keiner Reise. Er wurde ermordet!«
»Er war ein Reisender«, erklärte Onkel Press ruhig. »Er tat nur seine Pflicht. Ich verspreche euch beiden, dass ihr im Laufe der Zeit alles verstehen werdet. Und ich versichere dir, dass es deiner Mutter gut geht.«
Die Situation, in der wir uns befanden, ließ alle möglichen schrecklichen Gefühle wieder in mir aufsteigen. Die vielen Geheimnisse, die das Leben der Reisenden umgaben, machten mich halb wahnsinnig. Für Spader war das alles noch neu. Wie musste er sich erst fühlen? Sekundenlang standen wir reglos herum, bis er plötzlich in ein Zimmer lief.
Er stellte sich in die Mitte des Raumes und sagte: »Das war mein Zimmer. Hier habe ich von Geburt an gelebt, bis zu dem Tag, an dem ich auf die Aquanier-Schule ging. Meine ganze Kindheit kann doch unmöglich ausgelöscht sein, als hätte sie nie existiert.«
Er öffnete einen begehbaren Wandschrank und trat hinein. »Hilf mir, Pendragon!«, bat er. Achselzuckend folgte ich ihm.
»Ich muss da hoch«, sagte er nur.
Schnell verschränkte ich die Hände und streckte sie ihm entgegen. Spader stellte den Fuß darauf, und ich hob ihn in die Höhe.
»Ich hatte ein Versteck, das niemand außer mir kannte«, erklärte
er und tastete suchend an der Wand entlang. »Dort bewahrte ich Sachen auf, die mir wichtig waren.«
Ich konnte ihn gut verstehen. Genauso hatte ich mich verhalten. Ich war Stück für Stück das leere Grundstück in Stony Brook abgegangen und hatte verzweifelt nach einem Hinweis auf meine Existenz gesucht, aber nichts entdecken können. Sogar die abgewetzte Stelle an einem Baum, an dem unsere Schaukel gehangen hatte, war verschwunden. Ich wusste, dass Spaders Versteck leer sein würde.
Über der Schranktür befand sich ein
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