Penelope Williamson
Flittchen eine tugendhafte und gottesfürchtige
Frau ist. Wenn das so wäre, dann wäre ganz Boston ein sündiges Babylon
...«
»Jetzt reicht's aber!« Delia explodierte und
griff wutentbrannt nach dem Gewehr. Sie hielt es wie einen Knüppel über den
Kopf und rief: »Du alte Vettel, wenn du mich noch einmal als 'Hure' oder 'Flittchen'
beschimpfst, geb ich dir damit eins auf dein loses Maul!«
Sara Kemble blieb der Mund offenstehen. Sie wich erschrocken zwei
Schritte zurück und legte die Hand auf den stattlichen Busen. »Allmächtiger
Gott, steh mir bei!« murmelte sie. »Sie will mich umbringen! Sie will mich
erschießen ...«
»Eine Kugel wäre zu schade für dich!« rief Delia. »Ich verlange,
daß du dich auf der Stelle bei mir entschuldigst und alles zurücknimmst, was
du behauptet hast, du alte Hexe!«
Sara rang nach Luft. »Hexe ...«
»In Boston werden solche Weiber mit einem Lügenmaul, wie du es
hast, öffentlich ausgepeitscht. Dir braucht man doch nur einen Besen zu geben,
dann fliegst du davon!«
Sara stieß einen gellenden Schrei aus und stürmte zur Pendeltür,
zwängte sich hindurch und erreichte erstaunlich schnell die Haustür. In ihrer
Hast gelang es ihr nicht gleich, den Riegel zur Seite zu schieben. Schnaufend
drehte sie sich um und rief aus sicherer Entfernung: »Das werdet ihr bereuen.
Das werdert ihr alle bereuen! Das schwöre ich, bei Gott, der mein Zeuge ist!«
Sie stieß die Tür auf und rief: »Obadia, wo bleibst du denn wieder?«
Mr. Kemble blickte wie verzückt Delia an und lächelte. Bei dem
Gebrüll seiner Frau zuckte er jedoch schuldbewußt zusammen, das Lächeln
verschwand von seinem Gesicht, und er eilte mit schlurfenden Schritten zur
Tür. Auch er blieb dort noch einmal stehen, lächelte Delia zu und schloß
behutsam die Tür hinter sich.
Plötzlich schien alles merkwürdig still zu sein. Zu Delias Überraschung
eilte Elizabeth auf sie zu und umarmte sie. »Delia! Ich bin so stolz auf dich!
Du hast sie tatsächlich in die Flucht geschlagen.« Sie drückte Delia noch
einmal an sich und sagte mit einem vernichtenden Blick auf Caleb und Tyl:
»Während unsere beiden Helden plötzlich sehr kleinlaut waren ...«
»In ganz Merrymeeting hat noch niemand gewagt, Sara Kemble die
Stirn zu bieten«, erklärte Tyl. »Wenn das bekannt wird, kann sie sich nicht
mehr vor die Tür wagen ...« Er lachte erleichtert.
»Ich finde das überhaupt nicht komisch«, sagte Delia und warf Tyl
das Gewehr zu. »Sie hat mich beschimpft, und ich habe mich wie ein keifendes
Waschweib benommen ...«
Tyl lehnte das Gewehr an das Faß, trat zu ihr und legte ihr den
Arm um die Hüfte. Aber sie schob ihn energisch von sich. »Eine Dame hätte das
nie getan und gesagt, was ich getan und gesagt habe.« Sie sah Elizabeth traurig
an. »Und das stimmt leider!«
Am liebsten wäre Delia in Tränen ausgebrochen. Statt dessen drehte
sie sich um und ging stumm hinaus, aber ohne sich noch einmal umzudrehen.
10
Delia stand am
Ende der schmalen Landzunge hoch über dem Meer und blickte sehnsüchtig über das
Wasser. In der Bucht lagen zahlreiche Inseln, die sie an Schiffe bei einer
Flottenparade erinnerten.
Sie beugte sich weit über die Klippe und betrachtete nachdenklich
den schmalen steinigen Strand mit dem angeschwemmten Seetang. Direkt an der
Flutgrenze wuchs auf einem Felsvorsprung eine schlanke Kiefer. Auf den Wellen
schaukelten zwei Möwen und stießen schrille durchdringende Schreie aus.
Es klingt wie der Streit von zwei Verliebten, dachte sie seufzend.
»Delia! Geh da weg!«
Sie drehte sich um und sah Tyl inmitten der verkohlten Balken, die
offenbar einmal die Palisaden eines alten Forts gewesen waren. Selbst über die
Entfernung hinweg spürte sie seine Angst.
Er glaubt wohl, ich werde mich von der Klippe
stürzen.
Bei diesem Gedanken mußte sie laut lachen.
Dieser Dummkopf!
Als hätte sie die mühsame Reise gemacht, um sich hier das Leben zu
nehmen. Das wäre in Boston einfacher gewesen, noch dazu ohne den Streit und
Ärger mit ihm, ganz zu schweigen von den wunden Stellen am Gesäß, weil sie Tag
für Tag im Sattel sitzen mußte.
Sie verließ die Klippe und ging langsam zu ihm zurück. Er stand
breitbeinig in der Ruine des Forts, eine typisch männliche Pose. Sie mußte
beinahe lächeln und ließ sich keineswegs einschüchtern.
»Liebst du Susan?« fragte sie.
Ihre Frage verblüffte ihn, und er wurde rot. Um seine Verlegenheit
zu überspielen, lachte er, aber es klang gezwungen.
»Also,
Weitere Kostenlose Bücher