Penelope Williamson
Vielleicht kannst du die Leute
überzeugen, wenn sie sehen, daß ich überlebe.«
Tyl zögerte nicht lange. Er öffnete die Tasche und nahm eine Lanzette
heraus, danach eine Phiole, die in Leinen gewickelt war. Delia wollte nicht darüber nachdenken, was die Phiole
enthalten mochte. Die Leute waren mittlerweile still geworden und sahen aufmerksam
zu.
»Deinen rechten Arm, bitte«, sagte Tyl leise und wieder völlig
gelassen. Als seine Hand ihren Arm umfaßte, traten ihr Tränen in die Augen, und
sie wandte schnell den Blick ab.
»Ja, es ist besser, wenn du nicht hinsiehst«, sagte er spöttisch.
»Du gehörst hoffentlich nicht zu den Frauen, die bei jeder Gelegenheit
ohnmächtig werden.«
»Wahrscheinlich
nicht ...«
»Ich muß in den Arm zwei
winzige Einschnitte machen.«
»Meinetwegen.«
Er brummte: »Gut. Trotzdem würde es meinen Ruf nicht gerade
verbessern, wenn du jetzt laut schreist.«
»Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun«, sagte Anne, und es klang
besorgt.
»Natürlich
weiß er das«, erwiderte Delia beruhigend.
Das Impfen dauerte weniger als eine Minute. Die Menge sah mit
angehaltenem Atem zu. Delia zuckte nicht mit den Wimpern. Tyl wickelte
anschließend eine dünne Binde um die Einschnitte am Oberarm.
»Du wirst eine sehr leichte Form der Pocken bekommen und
vielleicht in den nächsten Tagen etwas erhöhte Temperatur haben«, erklärte er.
»Die Einschnitte werden sich etwas entzünden. So, Anne, Sie könnten jetzt mit
Delia ins Haus gehen und ihr vielleicht einen Sassafrastee kochen.«
Anne schüttelte den Kopf. »Sie und Ihr ewiger Sassafrastee. Sie
müssen das Zeug wirklich für ein Zaubermittel halten, da Sie es bei jeder
Krankheit verschreiben.«
Tyl lächelte unbeeindruckt. »Es ist ein Zaubermittel.« Er strich
Delia zart über die Wange. »Delia ... ich ... also vielen Dank.«
Sie sah ihn schief an. »Schon gut, Tyl.« Dann fügte sie so laut
hinzu, daß alle sie hören konnten. »Wenn ich am Ende der Woche noch lebe, dann
werde ich deinen Erfolg überall verkünden.«
Während Tyl auf den Stufen Delia gegen die Pocken impfte, wartete Nat
geduldig auf den Arzt. Er wollte mit ihm unter vier Augen sprechen. Eine halbe
Stunde später war es soweit. Tyl überquerte die Gemeindewiese in Richtung
Pfarrhaus, als Nat ihn abfing.
»Sagen Sie mir die Wahrheit, Tyl, war Delia in
Boston eine Hure?«
Tyl blieb stehen und wechselte die Arzttasche von einer Hand in
die andere. Es fiel ihm schwer, Nat in die Augen zu sehen, aber er tat es
trotzdem. »Nein, sie war keine Hure. Ich weiß es zufällig genau.« Immerhin
mußte er nicht lügen und konnte Nat mit ganzer Überzeugung die Wahrheit sagen.
Nat kniff die Augen zusammen. »Das hat sie
mir auch gesagt, und ich habe ihr geglaubt. Aber dann habe ich mir doch
Gedanken gemacht ... wissen Sie, Doc, ich könnte in Marys Haus nie eine Hure
bringen. Außerdem sind da noch meine Mädchen, an die ich denken muß. Verstehen
Sie, deshalb mußte ich mich bei Ihnen vergewissern.«
Tyl kämpfte bereits wieder mit seinem schlechten Gewissen und
Schuldgefühlen.
Er fuhr sich nervös mit der freien Hand durch die Haare und sagte
dann: »Nat, ich habe Delia in Boston versichert, wenn die Heirat nicht zustande
kommt, dann ...«
»Nein, nein, darum geht es nicht.« Seine grauen Augen richteten
sich ernst auf Tyl. »Wissen Sie, Doc, als die Kleine gestern vom Schiff kam ...
also, sie war so ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Es ist
natürlich verrückt, aber irgendwie hatte ich gehofft, Sie würden mir m ...
meine M ... Mary zurückbringen.«
»Nat ...«
»Sie haben keine Schuld, Doc, auch nicht das arme Mädchen. Wie
kann ich ihr vorwerfen, nicht Mary zu sein? Wissen Sie, ich glaube,
gestern habe ich mir zum ersten Mal eingestanden, daß Mary wirklich tot ist.
Sie ist tot, Tyl.« Er kämpfte mit den Tränen. »Ach, es ist so schwer. Mein
Gott, wie sie mir fehlt ...«
Wie kann ein Mann nur dumm genug sein, eine Frau so zu lieben,
daß er dieses Leid ertragen muß, wenn er sie verliert, dachte Tyl. Vor allem
dann, wenn er mit seiner Liebe im Bett jedesmal riskiert, sie dem Tod in die
Arme zu werfen.
Sein Entschluß stand fest.
Nein, ich werde keine Frau so sehr lieben, und ich werde für keine
soviel empfinden, dann muß ich auch nicht erleben, daß mir das wenige genommen
wird, das mir wichtig ist.
»Sie sollen nicht glauben, daß ich Ihnen nicht
dankbar bin, weil Sie das Mädchen mitgebracht haben«, fuhr Nat fort. »Sie ist
zwar noch
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