Penelope Williamson
mit dem Tee. »Das ist heute nicht das Richtige, Bridget«, sagte Anne
streng. »Bring uns beiden ein Glas Sherry.«
Delia trat neben Anne. Die ältere Frau freute
sich über Delias Zuneigung, und obwohl sie jede Zurschaustellung von Gefühlen
haßte, hätte sie das junge Mädchen in diesem Augenblick am liebsten in die
Arme genommen und an sich gedrückt. Zu Annes Verblüffung traten ihr sogar
Tränen in die Augen. Und so erschien es ihr das beste zu schweigen.
Die eintönigen, aber so beruhigenden, weil
vertrauten Geräusche des Sägewerks wurden nur von den schrillen Schreien der
Silbermöwen, die über der Bucht kreisten, unterbrochen. Die Mittagssonne
stand hoch am Himmel. Die Blätter und Nadeln der hohen Bäume ließen sich von
der Wärme verwöhnen. Der sanfte Wind trug den Duft von Farn und Harz über das
Land.
»Es ist so schön hier«, murmelte Delia schließlich, aber es klang
wehmütig.
»Ja, Merrymeeting ist bestimmt einer der schönsten Orte auf der
ganzen Welt.« Anne nickte nachdenklich. »Aber es ist nicht das Paradies ...
nein, das ist es bestimmt nicht.« Wer weiß das besser als ich, dachte sie, und
ihre Lippen wurden schmal. Schließlich habe ich hier einen Mann und drei Kinder
verloren ...
Bridget brachte ihnen den Sherry. Anne hob in einem stummen Toast
den hohen Zinnbecher und trank einen großen Schluck. »Es ist ein schöner Tag
für eine Hochzeit und für ein Fest.«
Delias schöne Augen sahen Anne schwermütig an, als sie leise
fragte: »Wird denn überhaupt jemand kommen?«
»Warum denn
nicht?«
»Sara Kemble hat doch allen gesagt, ich sei in Boston eine ... hm
... und würde mit jedem Mann schlafen, wenn er nur genug dafür bezahlt. Die
Frauen reden darüber, und zwar laut genug, daß ich es höre, wenn ich mich sehen
lasse.«
Anne zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Es kommt nicht
darauf an, was dieses Waschweib sagt. Es gibt immer Leute, die am liebsten nur
im Dreck wühlen, und Sara gehört ganz bestimmt zu ihnen.« Sie beugte sich vor
und fügte etwas leiser hinzu: »Sara ist so häßlich wie die Nacht und bekommt
keine Kinder. Deshalb ist sie eifersüchtig auf ein junges hübsches Mädchen, wie
du es bist.«
Delia konnte das nicht glauben, aber sie schwieg und trank einen
Schluck Sherry. Sie mußte husten und verzog das Gesicht. »Was ist denn das?«
»Eine Dame trinkt Sherry, Delia«, antwortete Anne mit einem
Augenzwinkern. »Wenn du eine Dame werden willst, mußt du dich wohl oder übel an
den Geschmack gewöhnen.«
Delia nickte und trank gehorsam noch einen Schluck. Dabei
versuchte sie höflich, ihren Widerwillen nicht zu zeigen. Anne hätte am
liebsten laut aufgelacht. Die Kleine besaß einen eisernen Willen. Sie setzte
alles durch, was sie sich vornahm, und fügte sich in das, was das Leben von ihr
verlangte. Anne konnte sie dazu nur beglückwünschen, denn sie wußte, daß auf
Delia noch viele Herausforderungen warteten. Einen Augenblick lang beneidete
sie Delia um ihre Kraft und ihre Jugend. Seit vielen Jahren hatte sich Anne
nicht mehr so müde und erschöpft gefühlt ... und so alt.
»Ich habe in der letzten Woche Dr. Savitch überhaupt nicht gesehen«,
sagte Delia so beiläufig wie möglich, aber in den Ohren der älteren Frau klang
es mehr als kläglich. Annes Mitleid erwachte, und sie erwiderte freundlich: »Er
ist am Mittwoch nach Falmouth Neck gefahren.«
»Ach ...« Delia mußte schlucken. Sie umklammerte den Zinnbecher
so fest, daß ihre Knöchel weiß wurden.
»Er ist zur Entbindung einer Frau auf Cape Elizabeth«, fügte Anne
erklärend hinzu.
»Zu einer Entbindung ...«, wiederholte Delia
tonlos.
»In deinem Gesicht kann man lesen wie in einem Buch«, sagte Anne
kopfschüttelnd.
Delia sah ihre Freundin erschrocken an. »Und was kann man da
sehen?«
Anne lachte. Sie stellte den Becher auf das
Fensterbrett und umfaßte Delias Gesicht mit beiden Händen. »Deine Liebe für
Tyl. Man sieht es in deinem Gesicht, deinen Augen, und man hört es daran, wie
du seinen Namen aussprichst.«
Delia wich mit angehaltenem Atem zurück und drehte sich verlegen
um.
»Ich gebe zu, daß auch ich ein wenig in ihn vernarrt bin«, sagte
Anne spöttisch. »Vermutlich gibt es in ganz Merrymeeting und Umgebung
keine Frau, die er nicht mehr oder weniger betört hat.
Er sieht leider zu gut aus, er ist ein ausgezeichneter Arzt und
immer für uns alle da. Andererseits läßt er sich von niemandem einfangen und ist frei und ungebunden wie ein Vogel in der
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