Penelope Williamson
sicher
zu sein glaubte, daß man sie nicht beobachtete, stellte sie sich auf die Bank,
damit sie aus dem Fenster blicken konnte. Es
war ein vergittertes Eisenfenster, und sie konnte mit etwas Mühe hinausschauen.
Grüner Rasen zog sich einen Abhang hinunter bis zu einem Birkenwäldchen, das
sie an zu Hause erinnerte. Das gelbe Laub und die weißen Stämme schimmerten
silbern in der klaren blauen Luft.
Stunden
vergingen ... Emma wußte nicht wie viele, denn Zeit war an diesem Ort ohne
Bedeutung. Eine Glocke läutete und rief die Frauen in eine andere, kleinere
Halle. Dort setzten sie sich wieder auf Holzbänke an grob gezimmerte
Holztische und aßen Corned Beef und kalte gekochte Kartoffeln. Die Frau neben
ihr begann, sich das Gesicht und die Haare mit Kartoffeln zu beschmieren.
Emmas Magen revoltierte, so daß sie nichts essen konnte. Als sie zu ihrem Platz
auf der Bank unter dem Fenster zurückging, hatte sie vor Hunger Magenkrämpfe.
»Sind Sie eine von den Verrückten oder einfach nur
eigensinnig?« Emma zuckte zusammen, als die Stimme an ihr Ohr drang, obwohl es
eine freundliche, angenehme Stimme war, die wie das Zwitschern eines kleinen
Vogels klang. Die Frau, der die Stimme gehörte, hatte ein schönes, aber
trauriges Gesicht und veilchenblaue Augen.
Doch Emma
dachte an das holzgetäfelte Zimmer und an den wissenden Blick, den ihr Onkel und
der Arzt getauscht hatten, als sie beteuerte, geistig gesund zu sein. Deshalb
traute sie weder der Frau noch ihren Worten.
Emmas Kinn
zitterte immer noch ein wenig, doch es gelang ihr trotzdem, es stolz zu heben.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Sind Sie
gesund oder geistig verwirrt?« Der Kopf der Frau kam näher, und sie blickte
aufmerksam in Emmas Augen. »Für mich sehen Sie gesund aus. Trotzdem kann man
das manchmal nur schwer sagen. Denn, was sie uns hier antun, würde selbst einen
Gott dazu bringen, nach kurzer Zeit zu schreien, zu sabbern und
unverständliches Zeug zu plappern.«
Emma hätte beinahe gelächelt.
Doch sie dachte daran, wie sie in der Zelle geschrien und an den Ketten gezerrt
hatte. Sie zuckte unwillkürlich schaudernd zusammen.
»Also, warum
sind Sie hier?«
»Wie?« fragte Emma und zuckte noch einmal zusammen.
»Woran leiden Sie? An
Melancholie, Schwachsinn, Hysterie, nervöser Erschöpfung?«
»Ich habe
ein erregbares Wesen.«
Die Frau musterte Emma
aufmerksam, und in ihren Augen tanzte ein Lächeln. »Ja, das sehe ich. Und wozu
hat Sie Ihr erregbares Wesen verleitet? Was haben Sie getan?«
»Ich habe
mir einen Geliebten genommen«, erwiderte Emma. Nach allem, was geschehen war,
überraschten sie der Stolz und das Staunen, das sie in diesen Worten hörte.
»Aber er ... er war unpassend, und ich sollte einen anderen heiraten.«
»Dann
leiden Sie an übermäßiger Leidenschaft. Das kommt bei Frauen öfter vor als bei
Männern. Also ist die Wurzel Ihres Übels offensichtlich. Sie sind eine Frau. In
der Tat, weiblich zu sein, ist häufig die Ursache großer nervöser Unruhe.«
Emma stellte ungläubig fest,
daß sie lächelte. Die Frau hatte ein nettes Lächeln, obwohl ihre Zähne verfault
waren.
»Ich bin
aus genau dem anderen Grund eingesperrt«, berichtete die Frau. »Mein Mann hatte
eine Geliebte. Er wollte mit ihr zusammenleben. Aber ich habe mich geweigert,
in die Scheidung einzuwilligen. Damals hielt ich eine Scheidung für eine
unerträgliche Schande. Ich habe nicht einmal erlaubt, daß jemand das Wort
>Scheidung< in meiner Gegenwart benutzte.«
Sie hing
einen Augenblick ihren Gedanken nach, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ja,
es gibt viele Fehlurteile, die man treffen kann, wenn man jung ist ...« Sie
seufzte. »Deshalb hat er mich in die Anstalt gesteckt. Ich weiß nicht, ob er
noch mit ihr zusammen ist. Sie könnte tot sein, sie könnten beide tot sein, und
wenn ich gelegentlich nicht klar bei Verstand bin, bete ich, daß sie tot sind.
Ich sage >nicht klar bei Verstand<, denn da er mich hier eingeliefert
hat, kann auch nur er mich herausholen. Was er nicht gut tun kann, wenn er
inzwischen tot ist, nicht wahr?«
Die Frau seufzte noch einmal
und sagte dann leise: »Ich bin seit über fünfunddreißig Jahren hier
eingesperrt.«
Fünfunddreißig
Jahre. 0 Gott, o Gott ...
Emma setzte
sich wieder auf ihre Hände, damit niemand ihr Zittern sah.
Die Frau hieß Annabel Kane. In
den folgenden Tagen kam sie oft zu Emma auf die Bank. Wenn die Schwester nicht
in der Nähe war und sie sehen konnte, stellten sie sich manchmal
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