Penelope Williamson
beide darauf und
blickten aus dem Fenster. Emma erfuhr, daß sich hinter dem Birkenwäldchen ein
Zaun und ein verschlossenes Tor befanden.
Sie füllten die Stunden mit
Gesprächen. Meistens sprach Emma und hauptsächlich über ihre Kindheit, über das
Segeln und Reiten. Seltsamerweise redete sie auch über Geoffrey, an den sie
immer häufiger denken mußte, obwohl sie nicht wußte wieso.
»Ich fürchte, ich bin hier
ziemlich abgestumpft«, sagte Annabel. »Ein Tag gleicht dem anderen.«
Eines Tages
kam sie zur Bank, und ihr Gesicht war vor Aufregung wie verwandelt. »Morgen
gehe ich nach Hause!« sagte sie zu Emma. Emma griff nach ihren Händen. »Das ist
wunderbar«, erwiderte sie mit Tränen in den Augen. »Ist es Ihr Mann? Hat er
Ihre Entlassung beantragt? Oder haben die Ärzte entschieden, daß Sie geheilt
sind?«
Doch Annabel war so aufgeregt,
daß sie keine Antwort gab. Statt dessen sprachen die Frau den ganzen Nachmittag
von den Dingen, die sie am ersten Tag in der Freiheit tun würde. »Ich werde
einen langen Spaziergang machen«, sagte Annabel, »einen langen, langen Spaziergang.
Und ich werde in den weiten offenen Himmel blicken und ihn in mich aufnehmen,
einfach alles in mich aufnehmen.«
Als Annabel ging, beugte sie
sich vor und wischte eine Träne von Emmas Wange. »Passen Sie gut auf Ihr
erregbares Wesen auf, Miss Emma Tremayne. Bewahren Sie es sich.«
Doch als
Emma am nächsten Tag auf dem Weg zum Eßsaal an den Schlafräumen vorbeiging, sah
sie, daß man Annabel mit den Füßen festgebunden auf das Bett gefesselt hatte.
Die Hände steckten in einem Muff, und ein breites Lederband spannte sich über
ihre Brust. Sie war offenbar mit Medikamenten ruhiggestellt worden, denn sie
schnarchte laut, und sie war nackt.
»Annabel!«
rief Emma und wollte zu ihr. Doch die Oberschwester kam schwerfällig hinter ihr
her, packte sie am Arm und hielt sie mit einem so heftigen Ruck fest, daß sie
beinahe Emmas Schultergelenk ausrenkte.
»0 Gott
... Bitte, Schwester. Könnte man sie nicht wenigstens zudekken?«
»Sie hat letzte Nacht die
Bettücher zerrissen«, erwiderte die Oberschwester, »und dafür wird sie
bestraft. Du wirst das gleiche erleben, wenn du nicht den Mund hältst.«
Zwei Tage später wartete
Annabel an ihrem gewohnten Platz auf Emma. Sie stand auf der Bank und blickte
aus dem Fenster.
»Manchmal geht es mir nicht gut«,
erklärte sie. »Ich war so lange hier, Emma, so lange. Mein ganzes Leben lang.
Als ich hierherkam, war ich erst zwanzig. Zwanzig! Jetzt bin ich fünfundfünzig
und eine alte Frau. Ich werde hier sterben.« Sie berührte das vergitterte
Fenster mit den Fingerspitzen. »Manchmal bringt mich die Vorstellung, daß ich
hier sterben werde, zur Verzweiflung.«
In der Nacht riß Annabel Kane
ihr Bettlaken in Streifen und knüpfte sie zu einem Seil zusammen. Dann
befestigte sie das Seil an der Kupferlampe und erhängte sich.
Jetzt stand Emma allein auf
der Bank.
Sie verschloß die Ohren vor den
Schreien, dem Stöhnen und Sabbern der anderen Frauen, der Verrückten. Sie
verschloß die Nase vor ihrem Schweiß und Urin. Sie preßte das Gesicht an das
kalte vergitterte Fenster und beobachtete, wie die Birken draußen im Wind ein
Blatt nach dem anderen verloren.
Eines Tages blickte sie hinaus
und sah, daß der Rasen mit Schnee bedeckt war.
Emma dachte nicht an Shay, denn das war unerträglich.
Sie stellte sich vor, sie gehe
mit Bria an einem grauen Kiesstrand entlang, wo die Luft so silbern war wie die
Bucht.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Es war
ein kalter, feuchter Tag, der einen so wehleidig werden ließ, daß man ständig
hätte in Tränen ausbrechen können.
Maddie saß
in ihrem Rollstuhl auf der Terrasse über der Bucht und machte sich Sorgen, daß
sie naß werden würde. Doch die grauen, nassen Tage, an denen zuerst Schnee
fiel, der dann in Schneeregen überging, schienen kein Ende zu nehmen, und sie
hatte das Bedürfnis gehabt, das Haus zu verlassen.
Sie hörte Schritte auf den
Steinplatten und drehte sich um, denn sie erwartete Tildy oder einen der
anderen Diener. Ihr Herz begann vor Angst und Erleichterung wie rasend zu
klopfen, als sie Stuart Alcott sah, der mit seinen großen Schritten auf dem Weg
näher kam. Er trug lässige Reitkleidung: eine Lederhose, kniehohe Stiefel und
eine lose Jacke mit Gürtel.
»Wie, du
bist schon wieder hier, Stuart?« rief sie, als er vor ihr stand. Sie hatte ihm
in den vergangenen zwei Monaten zahllose Briefe geschrieben und ihn gebeten
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