Penelope Williamson
Antwort, denn sie
studierte völlig versunken Brias Gesicht. Sie prägte sich die scharf
gezeichnete Linie eines Wangenknochens ein, die geschwungene Augenbraue, das
stolze Kinn. Sie hatte bereits viele Skizzen von diesem Gesicht gemacht. Sie
wollte nichts sehnlicher, als es in Ton zu formen, aber sie fürchtete sich
davor, als verliere sie alles, sobald sie versuchte, es zu erschaffen. »Sind
wir Freundinnen, Bria?« fragte sie, während sie Seite an Seite am staubigen
Straßenrand knieten. Um sie herum blühten Goldrute und Weißdorn. Sie hielten
die Körbchen im Schoß und genossen den fruchtig süßen Geschmack der Himbeeren.
Bria sah sie an. Ihre Lippen
waren vom Himbeersaft gerötet. »Wenn wir nach allem, was geschehen ist, nicht
Freundinnen sind, wie soll man es dann sonst bezeichnen?«
»Ich
möchte am liebsten«, erwiderte Emma, »ein anderes Wort dafür finden.« Sie
blickte die Straße entlang, die durch den Wald zur Fähre führte, wo, wie sie aus
eigener Erfahrung wußte, Schnepfen am Strand auf und ab liefen und manchmal
auch geschossen wurden. »Es gibt viele Leute, die ich Freunde nenne, aber ich
weiß, das sind sie nicht. Jetzt fange ich an zu glauben, daß es in meinem Leben
nichts Wirkliches gibt. Alles ist eine Illusion.«
»Das hübsche Kleid ist keine
Illusion, und ich könnte mir denken, daß es wirklich sehr teuer war.«
Emma
seufzte und lachte zugleich. »Klingt das, was ich sage, dumm?«
»Ja ... und
auch ein wenig stolz.«
»Bitte, deshalb brauche ich Sie
in meinem Leben, damit ich bescheiden bleibe und vielleicht irgendwann einmal
klug werde.«
Sie
lächelten sich an. Bria pflückte eine Himbeere und schob sie Emma in den Mund.
Sie öffnete die Lippen und schmeckte die saftige Frucht. Sie war süß und warm,
einfach köstlich.
»Ich bin deine Freundin, Emma.«
Zum ersten Mal wählte sie das persönliche »Du«. Ihre Wangen glühten vor Freude,
und sie lächelte glücklich. »Ich habe dich wirklich ins Herz geschlossen.«
Emma
spürte, wie sich unter der Kraft all ihrer Gefühle auch ihr Gesicht veränderte.
»Ich habe mir immer vorgestellt, wenn ich eine Freundin finden würde, eine richtige Freundin, dann wäre es so, als würde ich die fehlende Hälfte meines Wesens
entdecken. Aber ich habe mich geirrt. Eine richtige Freundin ist nicht die
andere Hälfte, sie ist die ganze andere Seite von allem, auch der Seele. Sie
ist das Bild, das man im Spiegel sieht.«
Emma hob
die Hand und drehte die Handfläche nach außen. Bria tat dasselbe. Sie berührten
sich an den Fingerspitzen, wie man eine Spiegelung im silbernen Glas berühren
würde. Dann mußten sie beide blinzeln und den Kopf zur Seite drehen, als seien
sie plötzlich vom Spiegelbild geblendet.
Sie sahen
beide, daß die Mädchen auf der Straße in ihre Richtung rannten, als würden sie
verfolgt. Merry summte in den höchsten Tönen. Sie hörten das Summen wie den
Flügelschlag eines Kolibris. Dann begann Noreen zu rufen.
»Papa
kämpft!«
Die halbhohen Schwingtüren des Crow's Nest Saloon schlossen
sich von selbst hinter ihren Rücken. Das Innere glich einer Höhle. Es war
dunkel und feucht. Der Hefegeruch von Bier und der noch schärfere Gestank von
Whisky lagen in der Luft. Unter der Decke hingen dicke Tabakwolken. Emmas Augen
begannen sofort zu brennen.
Sie war
noch nie in einem Wirtshaus gewesen, in dem man das Teufelsgebräu verkaufte. Vor einige Jahren hatten einige
Töchter der guten Gesellschaft die Abstinenzbewegung unterstützt. Sie knieten
im Regen und Schlamm vor dem Crow's Nest und beteten laut zu Gott, um die
Betrunkenen zum Licht zurückzuführen. Sie verschenkten weiße Bänder als
Zeichen des Versprechens, dem Alkohol zu entsagen. Emma war natürlich nicht
erlaubt worden, an der Aktion teilzunehmen. Mama lehnte öffentliche
Zurschaustellungen grundsätzlich ab –, auch wenn es um rechtschaffene Dinge
ging.
Emma wußte
nicht, was sie eigentlich erwartet hatte, aber der erste Eindruck löste bei ihr
vor allem Enttäuschung aus, denn im Saloon war alles ordinär und gewöhnlich.
Auf ein paar Fässern lagen einfache Dielen, die als Theke dienten. Sägemehl
bedeckte den feuchten und schmierigen Fußboden. Mitten auf der Bar stand ein
Waschkessel mit Krebssuppe, doch es gab im ganzen Saloon weder Tische noch
Stühle, sondern nur Kisten und Hocker. An den Wänden aus ungehobelten Planken
standen einige wacklige Bänke. Keiner der Anwesenden schien sich in letzter
Zeit gewaschen zu haben.
Ein paar
Männer
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