Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
das halbe Dutzend herrlicher Schnecken
à l’ Alsacienne
am Horizont verschwinden, aber er nahm das Angebot an und bedankte sich wie für eine Begnadigung. Er wollte sich weiter über Essen unterhalten. Die Männer antworteten ihm mit der Zurückhaltung eines indianisch-keltiberischen Reservats. Am Dialekt erkannte er, daß der eine Galicier war und dem anderen wenig dazu fehlte.
»Ja, tatsächlich, mein Freund ist aus Orense und meine Wenigkeit aus León«, erzählte der Gesprächigere und Jüngere der beiden.
Sie gingen zielstrebig und ließen die Wohnblocks hinter sich. Der Weg schien lang zu werden. Plötzlich bogen sie in eine kurze, baumbestandene Straße ein. Er folgte den beiden. Sie traten vor das Schaufenster eines Sexklubs. Hinter den Scheiben war die weibliche Ware ausgestellt. Fünf oder sechs Mädchen exotischer Herkunft – von Frankreich bis Kaschmir – zeigten den Passanten ihre Brüste. In einer Ecke des Schaufensters zeigte ein Mädchen nur eine einzige Brust, und ihr Künstlername war ›Finita del Oro‹.
»Sie ist eine von uns!«, erklärte der Mann aus León mit vor Erregung erstickter Stimme.
»Aus León?«
»Nein, aus Spanien.«
»Sie ist die Schönste von allen«, verkündete der Galicier. Die beiden Männer schauten einander an, warfen einen letzten Blick auf ihren halbnackten Star und machten sich auf den Rückweg. Sie waren durch die halbe Stadt marschiert, nur um den halben Oberkörper einer Frau aus der Heimat zu sehen.
»Haben Sie hier Familie?«
Natürlich nicht! Der Galicier war Junggeselle, und der Mann aus León war zwar verheiratet, aber seine Frau war in León geblieben. Alle zwei Jahre fuhr er über Weihnachten nach Hause, und das machte ihm sichtlich zu schaffen.
»Ich bleibe hier immer anständig. Erstens, weil ich von meiner Frau in León dasselbe erwarte, und zweitens, weil die Sünde hier einen Haufen Geld kostet und wir zum Sparen hergekommen sind.« Er habe sich schon in León eine Wohnung gekauft und bezahle seiner ältesten Tochter Unterricht in Französisch und Stenographie. »Das mit den Sprachen ist sehr wichtig. Das merkt man erst, wenn man ins Ausland geht.«
Nachdem sein Geist von der sexuellen Gier befreit war, wurde der Mann aus León redselig. Als er vierzig geworden sei, habe er Spanien verlassen, wegen der Krise in der Zuckerindustrie von León, wo er gearbeitet hatte. Er fand, daß man, abgesehen von vier oder fünf Provinzen, überall in Spanien gut leben konnte. »In Ihrer Provinz lebt man gut!« meinten sie, als sie hörten, daß Carvalho in Barcelona wohnte.
»Ich stamme aber aus Lugo.«
»Aus welcher Gegend?« fragte eifrig der schüchterne Galicier, um in einem geeigneten Winkel des Gesprächs Fuß zu fassen.
»Aus Souto, bei San Juan de Muro.«
»Schlechter Boden, ganz arme Gegend.«
Carvalho erinnerte sich kaum an den schlechten Boden, auch nicht an die Armut, bestätigte es aber mit energischem Nicken. Er fragte die beiden, ob es ihnen gut gehe und ob sie keine Probleme hätten. Die beiden sahen einander wieder an.
»Politik interessiert uns nicht. Wir sind hergekommen, um ein paar Pesetas zusammenzukratzen und wieder nach Hause zu fahren.«
»Aber, ich meine, behandelt man euch gut? Kümmert sich die spanische Botschaft um euch?«
Wieder sahen sie einander an, und als der Mann aus León wieder Carvalho anblickte, war ihm anzusehen, daß er sich in seiner Haut nicht mehr wohl fühlte, als säße er auf einer Polizeiwache. Carvalho spürte, daß sie ihn für einen spanischen Polizisten hielten, der sie nach ihrer politischen Einstellung aushorchen wollte.
»Ich frage nur, weil ich hier einen Freund hatte, er hat in derselben Fabrik wie Sie gearbeitet und hatte die Schnauze richtig voll. Wir nannten ihn nur El Tatuado. Er hatte eine Tätowierung auf dem Rücken, die lautete:
Ich bin geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben
.«
Die beiden Männer hörten beim Gehen aufmerksam zu.
»Und ist es lange her, daß er hier gearbeitet hat?«
»Zwei oder drei Jahre.«
»Wie hieß er denn?«
»Also, das weiß ich nicht mehr genau. Weil wir ihn immer nur El Tatuado genannt haben, hat es uns nie gekümmert, ob er einen anderen Namen hatte.«
»Wie sah er denn aus?«
»Groß, blond, gutgebaut. Er sah aus wie ein Ausländer.«
Der Galicier gab dem anderen einen Rippenstoß. »Sieh an! El Americano!«
»Kann sein. Hier hat einmal ein großer blonder Junge gearbeitet, den wir El Americano nannten.«
»Und er hatte eine
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