Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
schlüpfen und sich in diese merkwürdige Höhle verlorener Stunden zurückzuziehen, in der Kellner und Köche zwischen den Dienstzeiten Zuflucht suchen. Seine Ankunft nötigte sie, an seinem Tisch zu erscheinen. Die letzten Gäste waren eine indonesische Familie. Die Frau war eine Schönheit in Mauve, die Gauguin gemalt haben könnte, und die beiden Mädchen versprachen ebenso schön zu erblühen. Der Vater dagegen war ein Sukarnotyp, dem das Alter und fünfhundert Kilo Übergewicht übel mitgespielt hatten. Beim Verlassen des Lokals verbeugten sie sich zeremoniell vor Carvalho, und Pepe versuchte mit klebrigem Blick die Flucht der herrlichen Ehefrau aufzuhalten. Seine Augen verfolgten das Spiel ihrer mächtigen Hinterbacken, bis diese aufhörten, die Luft im Mittelgang zu zermalmen, und der Körper der Frau eine Neunzig-Grad-Wendung machte, um dem Ausgang zuzustreben. Die zweite Seite des Winkels ermöglichte Carvalho die Feststellung, daß das Profil der Dame in Mauve hielt, was ihre Hüften versprachen. Die Dame strengte ihre orientalischen Mandelaugen an, um die Befriedigung der minutiösen Musterung dieses Ausländers voll auszukosten. Carvalho hatte bei ähnlichen Anlässen schon mehr als einmal bedauert, keine Visitenkarten zu besitzen, auf die man ein, zwei leidenschaftliche Worte kritzelt, um sie dann in die Hand der scheinbar gelangweilten Frau gleiten zu lassen, die von der Mauer der erotischen Konvention unter Verschluß gehalten wird. Eines Tages würde er dieses Experiment wagen. Zu schade, daß er nicht heute daran gedacht hatte.
Er wandte sich nun, frei von psychologischen Einschränkungen, der Lammkeule zu. Gut zubereitetes Fleisch ist in erster Linie ein Berührungsgenuß, der die Höhle des Gaumens erfreut. Die Keule vom Grill ist von der Zubereitungsart her die mit den wenigsten Schnörkeln. Sie besitzt weder die kartoffelfreudige und bohnengarnierte Ungezwungenheit der Keule nach Bauernart, noch das so oft verfälschte Jagdhorngeschmetter der Rehkeule und auch nicht die Naturverbundenheit der Keule mit Spinat. Eine gegrillte Keule ist vor allem anderen ein gut gebratenes und gut gewürztes Stück Fleisch. Nachdem sich die Aromastoffe des Burgunders, gegen die empfindsame Haut des Gaumens geschnalzt, in weingesättigten Dampf verwandelt und Carvalhos Nase durchströmt hatten, wirkte der Wein wie flüssiger Samt und legte sich auf die Wunden, die die Reibung des Fleisches gerissen hatte.
Carvalho speiste mit dem unerschütterlichen Enthusiasmus, der effiziente, wenig zur Dramatisierung neigende Gourmets auszeichnet. Seine Phantasie tobte, aber seine Lippen oder sein Gesicht zeigten keine andere Bewegung als den Reflex langsamen Kauens. Carvalho behielt seine innersten Gefühle zum Teil deshalb für sich, weil er schon immer der Meinung war, einsame Genüsse seien nicht übertragbar. Man kann aus dem geteilten Genuß ein Schauspiel machen, aber niemals aus dem einsamen. Es gab noch einen Grund. Eine übertriebene Äußerung der Essensfreude steht in direktem Verhältnis zur Höhe des Trinkgeldes, das man geben muß. Ein Kellner ist ein scharfsinniger psychologischer Analytiker, und sobald er in deinen Augen die Ekstase erkennt, kommt er herbei und bittet dich mit bewegter Stimme, ihm seine Beobachtung zu bestätigen. Dabei späht er dir in die Taschen von Seele und Körper mit der Komplizenschaft eines Gefährten des Genusses, der erst dann zum Orgasmus kommt, wenn du ihm fünfzehn Prozent der Rechnung als Trinkgeld überlassen hast.
Carvalho beschloß das Mahl mit einem Brie, der nicht reif genug war, und konnte danach dem Lockruf einiger Crêpes mit Orangenmarmelade nicht wiederstehen. Darauf trank er zwei Tassen Kaffee und zwei Gläschen Genever, um einen Schlußstrich unter die Aromen zu ziehen, die mittlerweile in seinem Gedächtnis präsenter waren als an seinem Gaumen. Die unvermeidliche Nach-Tisch-Philosophie entzündete Carvalhos Geist.
»Die besten Genüsse sind stets die im Gedächtnis.«
Er sagte es mit lauter Stimme, und der Kellner kam für den Fall, daß er etwas bestellen wollte. Carvalho übersetzte ihm den Satz ins Englische, und der Kellner lächelte herablassend, aber seinem Blick und der Art, wie er sich zurückzog, war zu entnehmen, daß er entweder mit Carvalhos Philosophie nicht einverstanden war oder die Nase voll hatte von diesem gemächlichen Esser, vielleicht aber auch den letzten Sinn des Satzes nicht verstanden hatte. Während der Kellner diese drei
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