Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
blauweißen, fahrbaren Stand einen frischen Matjes mit Zwiebeln zum Frühstück. Beim dritten matjesbelegten Pumpernickel-Canapé angelangt, beobachtete er das geschäftige Treiben der verglasten Barkassen, die sich anschickten, ihre Touristenrundfahrt durch die Grachten zu beginnen. Er durfte Amsterdam nicht verlassen, ohne wieder einmal diese Fahrt gemacht zu haben, bei der die Stadt über den Köpfen der ruhigen Betrachter schwebt, die fast im Liegen das phantastische Schauspiel einer Stadt aus dem 16. und 17. Jahrhundert an sich vorüberziehen lassen.
Die Züge in Holland wirken stets wie Nahverkehrsmittel; sie erinnern mehr an oberirdische Metros als an herkömmliche Eisenbahnen. Die Menschen steigen mit denselben Ritualen ein und aus wie bei der U-Bahn, und die Städte folgen aufeinander in harmonischem und kontinuierlichem Urbanismus, vor dem Hintergrund einer unveränderten Geographie. Carvalho dachte an eine Anekdote, die ihm Carrasquer, der Professor für Spanische Literatur an der Universität von Leiden, erzählt hatte: Holland besitzt nur einen einzigen Berg, der knapp 500 Meter hoch ist, und die Holländer betreten ihn niemals, um ihn nicht abzutragen. Er ist eine Art nationales Denkmal. In sich gekehrte, friedliche Wesen saßen mit Carvalho im Waggon. Ab und zu schnappte er spanische Wörter auf, italienische, griechische oder solche, die er für türkisch hielt. Aber der strenge Ernst der Holländer übertrug sich auf die Südländer aller Nationen. In einem Milieu, in dem die Stille zum guten Ton gehört, werden die Südländer aus aller Welt still. Oder, dachte Carvalho, sie befürchten einfach, die Bewohner der Metropolen mit dem sprachlichen Reichtum der armen Völker aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen. Carvalho hatte eine Pfeife mitgenommen, um sich der Umgebung anzupassen und die Gelegenheit zu nutzen, holländischen Tabak zu rauchen. Er stellte fest, daß die einfache Tatsache, Pfeife zu rauchen, bewirkte, daß er sich in sich selbst zurückzog, und ihm half, die anderen Menschen und die Dinge mit größerer Distanz zu betrachten. Er saugte an dem gehorsamen Anhängsel, und der Rauch legitimierte eine quasi selbstgenügsame Beziehung.
Nach der Ankunft in Den Haag wollte er zunächst etwas zu Fuß gehen. Als er vom Bahnhof zum Geschäftszentrum ging, erkannte er ein Restaurant wieder, das ihn schon bei seinem ersten Besuch in dieser Stadt begeistert hatte, das
House of the Lords
. Neugierig überflog er die Speisekarte und nahm sich vor, so schnell wie möglich hierher zurückzukehren und zu essen. Auf der Tageskarte standen unter anderem Schnecken
à l’ Alsacienne
und eine gegrillte Lammkeule, die ihn schwach machte. Er hatte seit Jahren keine ordentliche Keule mehr gegessen, genauer gesagt seit einem Weinfest in Dijon. Man konnte dem
House of the Lords
Vertrauen schenken. Er erinnerte sich an einen gefüllten Truthahn in Granatapfelsauce, den er zwischen den stoffbespannten Wänden dieser Nachahmung eines englischen Clubs genossen hatte. Der damalige Koch war allerdings ein Galicier gewesen.
Die Mittagszeit nahte, und er beeilte sich, die Philips-Niederlassung zu erreichen. Er beobachtete den Personalausgang, während er in dem Pornomagazin
Suck
blätterte. Die Titelseite schien der Verherrlichung der Mohrrübe gewidmet. Als die ersten Arbeiter herauskamen, faltete Carvalho die Zeitschrift zusammen und steckte sie in die Jackentasche. Er mischte sich unter die Vorhut der Arbeiter, die herauskamen und dem Mittagsmahl zustrebten, und vernahm sofort spanische Laute. Diskret folgte er zwei kleinen, stämmigen Mittvierzigern, die einen entschlossenen Marsch zum Stadtzentrum begannen. Er hängte sich an ihre Fersen und sprach sie an, sobald sie die andern hinter sich gelassen hatten.
»Verzeihung! Wie ich hörte, sprechen Sie Spanisch. Ich bin hier auf der Durchreise und möchte in einem Lokal essen, wo es heimatliche Küche gibt.«
Die beiden Männer blickten sich an und wiegten zweifelnd die Köpfe, als hätte Carvalho sie an einer Straßenkreuzung in Tordesillas gefragt, ob es noch weit sei nach Aranda del Duero.
»Hier sieht es schlecht aus. In Rotterdam oder Amsterdam ist es etwas anderes, aber hier …«
»Vielleicht in einem spanischen Kulturverein?«
»Ja, vielleicht in dem Kulturzentrum, wo wir beide manchmal essen gehen, er und ich. Wie müssen noch was erledigen, und wenn Sie mitkommen, zeigen wir Ihnen, wo es ist, und eventuell essen wir auch gleich dort.«
Carvalho sah
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