Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
irgendwas hat man ja auch seinen Kopf. Genau das hatte dein Freund nicht!«
»Es war doch nicht mein Freund! Ich kannte ihn vom Fußball, und er war sympathisch. Das kannst du nicht abstreiten!«
»Solche Typen wirken immer sympathisch. Weil sie an sich selbst keine Ansprüche stellen, verlangen sie auch nichts von anderen.«
Carvalho konnte nicht umhin, den Mann aus León in gewisser Weise zu bewundern. Das war die Ideologie, die man brauchte, um das eigene Leben nicht als totale Scheiße anzusehen. Der Mann aus León war in Fahrt. »Und aus diesem Grund gehen solche Leute auch keine Verpflichtungen ein. Wer selbst keine Verpflichtungen eingeht, verlangt auch nichts von anderen und steht immer als toller Kerl da. Du zum Beispiel, du bist Junggeselle, aber du unterstützt deine Mutter und schickst Geld nach Hause, damit sich euer Besitz vermehrt. Hier eine Kuh, da die Hochzeit einer Schwester oder eine Krankheit. Du weißt, was dich das kostet.«
Der Galicier hatte feuchte Augen bekommen und nickte. Carvalho nickte zu seiner eigenen Überraschung ebenfalls und dachte an den Beitrag zum Überleben der galicischen Hütten, den er mit den beiden Schecks über fünftausend Pesetas geleistet hatte. Aber gleich darauf verfluchte er sich selbst und die beiden anderen, als ihm bewußt wurde, wie todtraurig dieses Gespräch von drei Spaniern in Holland war, die glaubten, sich im Leben verwirklicht zu haben, weil sie eine Kuh oder das stenographische Gekritzel ihrer Tochter bezahlten. »Es ist hart, Spanier zu sein«, erklärte Carvalho und war gespannt, was geschehen würde. Und es geschah etwas. Der Mann aus León sah ihn fest an, näherte sein Gesicht dem von Carvalho, legte ihm die Hand auf den Arm, um sich besser verständlich zu machen oder um ihn seinen schweren Gedanken zu entreißen, und antwortete mit einem gewissen Nachdruck: »Aber es ist die großartigste Sache der Welt! Wenn jetzt, in diesem Moment, zwischen Spanien und Holland ein Krieg ausbrechen würde, ich würde sofort nach Spanien fahren, um meine Heimat zu verteidigen.« Er wandte sich an den Galicier, der in den Gedanken an bezahlte Kühe und verheiratete Schwestern versunken war. »Ich weiß nicht, was du machen würdest, aber ich würde das tun!«
»Ich auch, was glaubst du denn, ich auch«, versicherte der Galicier, sah aber Carvalho dabei an, als wollte er dem feinen Herrn die verbindliche Zusicherung entlocken, daß eine Kriegserklärung zwischen Spanien und Holland völlig ausgeschlossen war, wenigstens in den nächsten dreißig Jahren, die den drei Männern mehr oder weniger, besser oder schlechter, noch bleiben würden.
»Ein Krieg ist kaum wahrscheinlich«, versicherte Carvalho.
»Natürlich. Es war ja nur eine Annahme.« Der Mann aus León sah auf die Uhr und befahl seinem Kollegen, sich zu erheben. Sie mußten wieder an die Arbeit. Carvalho begleitete sie bis zum Fabriktor und drückte ihnen mit unverstellter Herzlichkeit die Hand.
»Fahren Sie an Weihnachten nach León?«
»Dieses Jahr nicht.«
Damit drehte er sich um und ging weg, der andere hinterher. Carvalho dachte an die Ausflüge, die diese beiden noch zu den Schaufenstern der Prostituierten machen würde, auf der Suche nach Kontakten, billig und verstohlen, rein visuell und nicht einmal mit menschlichem Fleisch. Die einen kommen zur Welt, um Geschichte zu machen, die anderen, um sie zu erleiden. Die einen zum Austeilen, die anderen zum Einstecken. Carvalho haderte auf irrationale Weise mit der Menschheit. Und diesen Groll übertrug er auf die gleichmütigen Holländer, die auf Fahrrädern umherfuhren, ohne gezwungen zu sein, ihr Land zu verlassen und in Murcia bei der Espartoernte oder in Cartagena in den Raffinerien zu arbeiten. »Ihr habt’s gut!« entfuhr es ihm, lauter als beabsichtigt. Das erregte die Aufmerksamkeit eines Gentleman mit Aktenkoffer und Krawatte, der sich mit freundlicher Herablassung nach ihm umsah. Er war deprimiert. Und doch stellte er fest, daß ihn sein Körper nicht im Stich gelassen und das richtige Ziel angesteuert hatte. Er eilte entschlossen zum
House of the Lords
, um seinen Magen den Alptraum des imitierten türkischen Essens vergessen zu lassen.
Der Burgunder kostete ein kleines Vermögen. Aber Carvalho hätte sich jedes Haar einzeln ausgerissen, wenn er die Gelegenheit nicht genutzt hätte, die gegrillte Lammkeule mit diesem Wein zu begießen. Er hatte das Restaurant betreten, als die Kellner gerade begannen, aus ihrer Kellnerrolle zu
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