Per Anhalter (German Edition)
Fast mittelaltermäßig. ´Der Gefangene möge seine Strafe empfangen`.
Aber das war jetzt schon wieder nicht mehr witzig genug, als dass er darüber lachen konnte. Zumal eine andere innere Stimme ihn garstig daran erinnerte, „Du hast übrigens gar keine Beine mehr, Schätzchen!“ Die Stimme klang mal wieder wie die seiner Mutter. „Du bist ein Krüppel auf Lebenszeit und eigentlich spielt es gar keine Rolle, wie du nun gedenkst, aus dieser Scheiße wieder raus zu kommen, weil du für immer auf irgendeine Weise davon gut haben wirst.“
Er war überrascht darüber, wie deutlich er diese Stimme hören konnte. Es war exakt der Tonfall, den seine Mutter bei einer ihrer zahlreichen Belehrungen über das Leben hatte. Und sie machte ihm unmissverständlich klar: „Du hast keine Perspektive, Davilein!“ Davilein hatte sie ihn tatsächlich mal eine Weile genannt und es hatte ewig gedauert, bis er ihr das wieder ausgetrieben hatte. „Du bist jetzt ein Krüppel und damit musst du leben. Aber eines will ich dir sagen: Es wird kein besonders angenehmes Leben für dich. Nur hast du dir das ja mal wirklich selbst zuzuschreiben. Was haust du auch von Zuhause ab? Und noch was: Mitleid hast du bei mir nicht zu erwarten. Bei mir nicht! Ich kann dir auch nicht sagen was du jetzt machen sollst. Es ist deine Entscheidung. Viel Erfolg!“
Er sah sie vor seinem geistigen Auge ihr typisches Schnäpfengesicht machen, dieses halb beleidigte, halb trotzige Gesicht mütterlicher Allwissenheit. Er sah sie, wie sie sich eine ihrer selbst gedrehten Zigaretten anzündete und abwesend den Kopf schüttelte.
„Beine kann man nicht einfach wieder dran setzen“ , sagte sie. „Wenn du einfach zu Hause geblieben wärst, wäre alles noch dran. Selber Schuld sag ich nur. Sel-ber Schuld! Ich werde mir jetzt mit Nadja einen schönen Tag machen. Du kannst ja sehen was du jetzt tust. Ich belaste mich damit nicht, bei aller Liebe, aber da hört´s auf. Du denkst doch hoffentlich nicht ernsthaft, dass wir alle zu Hause sitzen und ins Kopfkissen heulen, nur weil du nicht da bist, oder? Du hast uns einen Zettel hinterlassen auf dem stand ganz eindeutig drauf: ich bin bei Lena. Gut, dann bist du eben zu Lena. Denkst du, wir stehen alle ratlos vor diesem Zettel und denken, ach du liebe Zeit, der arme kleine Junge? Du bist 16 Jahre alt, David Gimm, und damit bist du alt genug, selbstbestimmt zu handeln. Natürlich habe ich dich nicht als vermisst gemeldet. Und Lena? Die denkt, du bist irgend so ein Luftikuss aus dem Internet, der ihr die ganze Zeit etwas vorgeschwindelt hat. Oder meinst du sie ist ganz aus dem Häuschen und ruft hier bei uns an und sagt, David ist gar nicht gekommen, obwohl er kommen wollte? Vielleicht hat sie versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen, aber das ist ja ausgestellt. Also kann sie dich nicht erreichen. Sie wird denken, du hast ihr was vorgemacht und ist beleidigt. Du kannst doch nicht allen Ernstes auch nur eine Sekunde damit gerechnet haben, dass die Polizei kommt und dich da raus holt.“
Was war denn das jetzt auf einmal? Er konnte die Stimme überhaupt nicht abstellen oder sie zwingen, etwas anderes zu sagen. Es war, als stünde seine Mutter wahrhaftig hinter ihm, um ihre Moralpredigt zu halten. Und alles was sie sagte, hatte Hand und Fuß. Wahrscheinlich vermisste ihn wirklich niemand und die Polizei war aus anderen Gründen gekommen, nicht seinetwegen. Weder Lena noch Nadja noch seine Mutter kümmerten sich.
Sie alle waren allenfalls enttäuscht und sauer. Und er konnte nichts, gar nichts , dagegen tun. Der Idiot war ganz allein er selbst. Er konnte keinem von ihnen einen Vorwurf daraus machen, dass sie nichts unternahmen. Nur er selbst war Schuld daran, dass er mit einem Teil seines Körpers aus dem Fenster nach draußen hing und nicht wusste, ob er vor oder zurück sollte und was dann als nächstes geschah, denn er hatte sich für den Weg entschieden, auf dem er nun feststeckte und mit jedem neuen Versuch, einen neuen Weg einzuschlagen, alles nur noch verschlimmerte, zum Beispiel indem er hier alles kaputt gemacht hatte und somit das Feuer der Wut gegen ihn neu entfachte, wenn sie wieder kamen und die Bescherung sahen.
Selbst wenn er wieder ins Bett zurück kriechen würde, war allen klar, dass er einen Fluchtversuch unternommen hatte. Weil er so undankbar war... Und wenn er sich schlafend stellte, würde es dieses Mal erst Recht keiner glauben. Und wenn ich springe... Muss ich ohne Beine durch die Welt
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