Per Anhalter (German Edition)
Treppe, die auf eine Veranda führte. Dadurch war das Haus wohl tatsächlich so hoch und es kam ihm nicht bloß so vor. Aber was nun? Jetzt war er so weit gegangen für nichts ? Das konnte er doch unmöglich so auf sich sitzen lassen. Andererseits konnte er auch schlecht einen Kopfsprung machen, denn unten war nichts als Gras und nackte Erde.
Klong - wieder ein Geräusch.
Es handelte sich um Eicheln wie er jetzt sah. Dass er sich davon immer noch so sehr erschrecken ließ, wunderte ihn.
Doch es hielt ihn nicht davon ab, die nächste Idee zu bekommen: Gleich da vorne neben der Tür ist doch noch ein Fenster. Und theoretisch müsste das doch direkt auf die Veranda führen. Na klar! Er schaute über die Schulter, denn er hatte die vage Erinnerung, dass dieses zweite Fenster im Raum nicht so groß und breit war. Außerdem wusste er ja gar nicht, ob er durch das Fenster überhaupt direkt auf die Veranda kommen würde. Wenn nicht, dann hätte er gleich zwei Fenster völlig umsonst eingeschlagen… Plus den Nachttisch zerstört… Und außerdem: Was, wenn sie gleich zurückkommen, gerade wenn ich dabei bin, das andere Fenster einzuschlagen? Wenn sie mich auf frischer Tat ertappen sozusagen?
Und da war noch etwas: Die Scherben. Gerade hatte sich eines der winzigen Splitter tief in seinen Rechten Mittelfinger und in die Handfläche gebohrt, dadurch kam er darauf, dass er ja auch wieder von diesem Fensterbrett herunter musste und dass der gesamte Boden unmittelbar unter ihm voller Scherben war. Bei der Operation „Scheibe einschlagen“ war er kurz zuvor schon ein paar Mal vom Fensterbrett herunter gerutscht. Da hatte er die Scherben auf dem Boden gar nicht bemerkt. Aber war es (bei seinem momentanen Glück) nicht typisch, wenn er jetzt herunter sprang und sich die Scherben mit aller Härte in die Stümpfe rammte… Oder dass er auf dem Hintern landete und sie sich darin eingruben… Oder, oder, oder…
Das Gleiche erwartet mich auf der anderen Seite auch, argwöhnte er, irritiert über seinen Pessimismus. Wenn ich vorne raus springe, dann könnte ich mir genauso Scherben in die Stümpfe rammen. Oder in den Kopf, in den Bauch, in den Arsch oder was weiß ich wohin. Genau genommen sitz ich hier gerade echt in der Klemme.
Agnostizismus pur! Letzter Halt: Hoffnungslosigkeit. Dieser Zug endet hier.
„Scheiße“ raunte er, mehr verärgert über seine Dummheit als vor Angst. Da hatte er doch schon wieder mit intuitiver Zielsicherheit den großen Pott Scheiße ausgesucht. Es war, als hätte er in jenem großen Pott Scheiße regelrecht gebadet , denn es war doch nicht mehr normal, dass, egal was er auch anfasste, misslang und ohne große Umwege im nächsten Desaster endete.
Jetzt hing er da, den Kopf draußen, den kümmerlichen Rest seines Körpers drinnen, und konnte sich weder vorwärts noch rückwärts aus der misslichen Lage befreien.
„Das gibt’s nicht!“ keuchte er. „Das kann doch echt nicht wahr sein!“ Im selben Augenblick spürte er, wie ein weiterer Glassplitter, knapp oberhalb seines Bauchnabels, Anstalten machte, unter seiner Haut zu verschwinden. Und außerdem juckten seine Beine jetzt wieder so heftig, dass er beim allerbesten Willen nicht glaubte, dass die Beine wirklich weg waren.
Jetzt bleib ruhig, dreh nicht wieder durch ermahnte ihn seine innere Stimme. Wahrscheinlich hatte sie absolut recht, denn er war jetzt schon wieder auf der dünnen, morschen Türschwelle zum Wahnsinn. Allerdings fand er auch, dass er allen Grund und jedes Recht dazu hatte, wahnsinnig zu werden. Jeder Mensch würde wahnsinnig, wenn, was immer er auch plante oder vorhatte, nicht funktionierte sondern alles nur noch schlimmer machte.
Eine riesige Kettenreaktion aus Kackwürsten geformter Dominosteine, die gegeneinander platschten und nie mehr aufhörten zu fallen. Er sah im Kopf die Wäscheleine aus der Werbung vom weißen Riesen, nur dass der Pfad keine Wäscheleine hatte, sondern eine riesige Schlange aus Kackwürsten, die nach und nach in ihrer geschwungenen Bahn umkippten.
Bei so viel Scheiße, die ihm passierte, musste er sich nun auch mal die Zeit nehmen, sich die Scheiße bildlich vorzustellen, was ihm doch tatsächlich einen kicksenden Laut entlockte. Fehlt eigentlich nur noch, dass ich hier jetzt hänge, und die gleich ankommen. Dann bleibt mir nur, es zu riskieren, und volles Rohr in die Scherben zu hüpfen, oder mich von ihnen befreien zu lassen um meine Strafe zu empfangen. Wow, wie vornehm sich das anhört.
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