Per Anhalter (German Edition)
Diese war ganz erleichtert. „Siehst du, ich hab`s dir doch gesagt!“ – Bums, das war ihre Aussage. Und verdammt noch mal, sie hatte Recht. Sie hatte von Anfang an Recht! Sie schämte sich grenzenlos für ihre Blauäugigkeit, für ihre Naivität David gegenüber. Wenn sie es doch nur wenigstens nicht jeder ihrer Freundinnen erzählt hätte, wenn sie doch nur ruhig geblieben wäre, es für sich behalten hätte. Sie war blamiert, hatte allen vorgeschwärmt, was für ein süßer Typ er war. Und nun? Nun war nichts mehr davon übrig. Nichts als Schall und Rauch.
Dann klopfte es an ihre Zimmertür.
„Hallo!“ hörte sie. Es war ihre Mutter die vor der Tür stand.
„Komm rein“ sagte sie tonlos. Ihre Mutter öffnete die Tür. Sie hatte ein breites Lächeln im Gesicht dem die Vorfreude innewohnte, den ersten „offiziellen Freund“ der Tochter endlich kennenzulernen. „Naaa“ sagte sie gedehnt. Lena sah sie suchen. Sie sah die Augen ihrer Mutter nach David suchen. Das war ein so scheußlicher Moment. Ein Moment, den es so nie geben durfte. Ein Moment, der einfach nicht wahr sein konnte.
„Wo ist denn…“ stammelte ihre Mutter. Weiter kam sie nicht. Die Tränen hatten Lena überwältigt. Ohne den Satz zu Ende zu sprechen, setzte sie sich zu ihrer Tochter aufs Bett und legte den Arm um sie. „Och Schatz“ sagte sie, „Was ist denn passiert? Ist David nicht gekommen? Hm?“ Lena schüttelte den Kopf und schluchzte.
„Och Mensch“ – fast klang es, als würde sie auch weinen. Sie drückte ihre Tochter fest an sich. Ein langer Rotzfaden hing an Lenas Nasenspitze. Die Tränen waren echt – groß und tropfenförmig quollen sie aus ihren Augen, flossen über ihr Gesicht.
Manchmal tut es auch mit 15 Jahren noch gut, einfach in den Armen der Mutter zu liegen und zu weinen. Sie sind von Geburt an bis in alle Ewigkeit für einen reserviert, ein Hort der Besinnung, wo auf die eine oder andere Weise noch jeder weltliche Schmerz genommen werden konnte. Ein magischer Ort, der intimste vielleicht den es nur geben kann.
Manchmal muss man – vollkommen unabhängig vom Alter – einfach in Mamas Arme fallen und sich von allem Schmerz lösen, die bedingungslose Liebe wie ein Schwamm in sich aufsaugen und die Gewissheit wieder erlangen, der wichtigste Mensch auf Erden zu sein, ganz gleich, wie das Leben auch immer mit einem umspringt.
***
Flensburg 500 Meter .
Die Ausfahrt lag vor ihnen.
Hier müssen wir rechts abfahren. Wehe sie fährt vorbei, wehe sie biegt nicht ab.
Doch Britta war nicht vorbeigefahren. In dem Moment, wo sie den Blinker setzte, wurde David von einer Woge der Dankbarkeit überspült. Dabei hatte er schon die wildesten Szenarien im Kopf, weil Britta seit der stumpfsinnigen Diskussion kein Wort mehr mit ihm (oder mit sonst irgendwem) gesprochen hatte. Als sie sich auf der Ausfahrt befanden stieß er einen erleichterten Seufzer aus. Okay, die Leute hier haben alle einen an der Pfanne. Dieser Lasse ist ein Psychotyp mit Babyspeck, das Baby inhaliert mehr Rauch als es wahrscheinlich je verarbeiten kann und Britta ist ein Pulverfass. Aber sie wird mich nicht entführen oder abstechen. Sie fährt mich jetzt nach Flensburg.
Er schloss die Augen und spürte, wie seine Muskeln sich entkrampften.
Zuvor war ihm überhaupt nicht aufgefallen, wie stark er sie anspannte.
Es kam ihm vor, als ob er aus einem abenteuerlichen Albtraum hochgeschreckt wäre und noch in diesem Dämmerzustand war, in dem man sich nie so ganz sicher war: Hab ich das gerade eben geträumt oder war hier wirklich ein Monster? Aber er hatte nur geträumt, nicht wahr? Es war nichts weiter als ein aus Angst geborener kleiner Albtraum. Die Situation in der er glaubte sich zu befinden, war illusorisch und schlichtweg falsch. Aber die ganzen uralten Ammenmärchen waren wieder hochgespült. Es war, als hätte er sie in eine kleine Kiste verbannt, den Deckel mit Ach- und Krach zugedrückt bekommen, und er war doch irgendwie wieder aufgesprungen. Was hatte man nicht alles für Geschichten gehört von Leuten, die per Anhalter gefahren waren. Ehrlich gesagt – er hatte noch nie eine richtig gehört. Er hatte lediglich Dinge aufgeschnappt und so Sachen wie Hammermörder oder Ehepaare, die Mädchen aufschnappten um sie gemeinsam zu missbrauchen, rumorten in seinem überlasteten Hirn. In einer beliebigen konventionellen Situation wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, eine Geschichte aus diesen Fetzen zusammen zu kleben, doch in der
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