Per Anhalter (German Edition)
beneiden“ behaupteten sie oft. Er hatte keine Ahnung, was genau Schule bedeutete. Papa und ab und zu auch Mama, veranstalteten mitunter etwas, dass sie Schulunterricht nannten. Manchmal über Wochen, selten über einen ganzen Monat hinweg.
Je nachdem, wo sie gerade waren und was anlag. Dadurch hatte er Dinge gelernt, die seine Eltern für wichtig erachteten. Zum Beispiel Uhren lesen oder ein Datum bestimmen. Er konnte auch ein klein wenig rechnen, aber Schreiben ging gar nicht. Lesen schon – aber eher schlecht.
Sie meinten, dass es eben mal sein müsste und er sollte zumindest gewisse Grundkenntnisse haben.
„Sonst kannst du später nicht mal im Lager anfangen oder so. Wenn du es denn möchtest. Für ein Leben wie wir es führen, hast du deine Ausbildung schon gemacht. Aber wenn du ungelernt irgendwo arbeiten möchtest, musst du zumindest wissen, wann du Feierabend hast.“ Lasse verstand nur Bahnhof.
War ihm eigentlich auch egal.
Papa hatte mal im Lager gearbeitet, nachdem er seine Ausbildung zum Zimmermann abgebrochen hatte. Mama war mal Krankenschwester, sagte sie. Deshalb konnte sie ziemlich gut Verbände machen und wusste, welche Medizin sie einem geben musste, wenn man mal krank war und welche Medizin Sonja zum Schlafen brauchte.
Uwe hingegen hatte noch nie gearbeitet und er meinte, dies sei auch nicht nötig.
Die einzige Arbeit, die Uwe verrichtete, bestand darin, Fotos von der Natur zu machen (oder von Kindern die von ihm und Papa gefickt wurden), Holz zu hacken und einzustapeln oder Wäsche zu waschen.
„Tue nie mehr als nötig und genieße das leben.“ Diesen Satz wiederholte Uwe wieder und immer wieder, wenn er einen zu viel gesoffen hatte. Überhaupt war er dann ziemlich unausstehlich, weil er einem dann immer seine Hand aufs Knie legte, mit dem Kopf dicht ran kam und erzählte, erzählte, erzählte… und darüber dann irgendwann einschlief… oder kotzte… oder beides. Mama sagte immer: „Du hattest sehr wohl mal einen Job, Uwe-Maus“ (sie nannte ihn immer Uwe-Maus, jedenfalls dann, wenn sie nicht gerade schlecht gelaunt war), „Partnervermittler. Ohne dich hätten Mario und ich uns nie kennengelernt.“
Uwe war dann immer verdutzt und sagte: „Stimmt!“ und sie lachten.
Lasse verstand nie, was daran so lustig war. Er fand es nicht lustig.
Vielleicht verstand er den Witz dahinter einfach noch nicht. Aus Höflichkeit lachte er trotzdem immer mit, einfach weil er dazu gehören und auch als Erwachsener anerkannt werden wollte. Uwe hatte damals wohl im Krankenhaus gelegen, in dem Mama als Krankenschwester arbeitete. Und Mario (Papa) war Uwes bester Freund, der ihn im Krankenhaus immer besuchte. Uwe war leidenschaftlicher Camper und durch ihn waren sie wohl auf diese Art zu leben gekommen, so weit er die Sache verstanden hatte.
Trotzdem war es nicht lustig, dass Uwe Partnervermittler war. Zumindest nicht so lustig, das man darüber immer wieder lachen konnte.
Sonja war im Übrigen nur Mamas leibliches Kind. Sie hatte sie von irgendeinem anderen Mann bekommen, den Lasse nicht kannte (und auch nicht kennen wollte).
In letzter Zeit wurde er von allen immer häufiger gefragt, ob er dieses Leben später so weiter führen wollte, oder was er sich vorstellte. Warum sie ihn das fragten, konnte er sich nicht so genau erklären. Vielleicht hatten sie Angst, dass er irgendwann auch weglaufen würde, mutmaßte er. Er sagte immer „Ja“, obwohl er sich nie ernsthaft Gedanken darüber machte. Das war irgendwie gar keine Frage. Was sollte er denn sonst machen? Was erwarteten sie von ihm? Die Frage überforderte ihn.
Er konnte sich nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu machen, als das, was er im Hier und Jetzt machte.
Außerdem hatte er den Eindruck, Mama, Papa und Uwe waren zufrieden wenn er sagte, dass er vorhatte, dieses Leben weiter zu führen. Wie gesagt – er kannte auch kein anderes Leben. Er hätte nicht gewusst, was er sonst hätte tun sollen. Außerdem hatte Uwe höchstwahrscheinlich Recht mit seiner Lebenseinstellung: „Tue nie mehr als nötig und genieße das Leben.“ Manchmal half er ihm beim Holz hacken. Uwe hörte immer schon nach kurzer Zeit wieder auf, setzte sich hin und rauchte seine berühmten „Tütchen“. Meistens hatten sie gerade erst angefangen. Es machte keinen großen Spaß.
„Siehst du, Lasse. Das nennt man Arbeit. Ätzend, oder?“ Oh ja, es war echt ätzend. Vor allen Dingen war es anstrengend.
„Tue nie mehr als nötig und genieße das
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