Perdido - Das Amulett des Kartenmachers

das hatte ihn gestärkt. Es hatte ihm geholfen durchzuhalten, und das hatte sich letztlich ausgezahlt, als Walter schließlich von seiner Reise zurückkehrte. Damals hatte Walter ihm geholfen. Jetzt konnte sich Hugo endlich dafür revanchieren.
    Hugo spürte seine Entschlossenheit zurückkehren. Zwar befand er sich in einer eindeutig misslichen Lage – mutterseelenallein mitten im Meer, auf einer sonderbaren Insel, die von fliegenden Ratten bewohnt wurde, die seinen Onkel verschleppt hatten – aber er gab sich nicht geschlagen. Walter konnte durchaus noch am Leben sein. Solange noch eine Möglichkeit bestand, ihn zu befreien, würde Hugo nicht aufgeben.
    Jetzt zum Schiff zurückzurudern und Hilfe zu holen, hatte keinen Zweck. Wenn Admiral Lilywhite Wind von den raubgierigen Vögeln bekam, würde er gewiss den Heimweg nach England antreten, so schnell ihn die Segel trugen. Dann würde Hugo Onkel Walter nie mehr wiedersehen. Nein, wenn irgendjemand seinen Onkel vor den gefiederten Scheusalen rettenkonnte, dann Hugo selbst. »Schließlich bist du ›Hilfsbereit, Unerschrocken, Großherzig und Optimistisch‹«, sprach er sich Mut zu.
    Als sich seine Augen auf die Dunkelheit eingestellt hatten, schichtete er ein kleines Holzhäufchen auf und steckte zwischen die Ästchen getrockneten Seetang, der als Zunder dienen sollte. Dann nahm er zwei Steine und schlug sie dicht neben dem Seetang gegeneinander. Nach mehreren Versuchen sprang ein Funke über, und hier und da glommen Flämmchen auf. Bald hatte Hugo ein hübsches kleines Lagerfeuer.
    Als ihm endlich angenehm warm wurde, hallte ein kreischender Schrei durch die Höhle. Wieder und wieder ertönte das durchdringende Krächzen, und wieder glaubte Hugo, Worte herauszuhören.
    »Du sitzt in der Falle, du sitzt in der Falle!«, schien es zu kreischen, und dann wieder: »Meins, meins, meins!«
    Das war bestimmt bloß Einbildung – oder doch nicht? Hugo sprang auf und lief zum Ausgang, blieb aber gleich wieder wie angewurzelt stehen: Ein Rattenvogel hatte den behaarten Kopf und die gefiederten Schultern durch den Spalt gezwängt. Als es Hugo erblickte, bleckte das Vieh die Zähne und ließ die Zunge vorschnellen. Diesmal war es deutlich zu verstehen.
    »Meins, meins!«, fauchte es.
    Einen Augenblick lang konnte sich Hugo vor Schreck und Staunen nicht rühren. Wo um Himmels willen war er hier gelandet?
    Aber er kam nicht zum Nachdenken. Das abscheuliche Vieh zwängte sich mit aller Macht durch den Spalt. Hugo zog einen Ast aus dem Feuer und schwenkte ihn wie einen flammenden Säbel vor der Schnauze des Eindringlings.
    »Ich bin nicht ›deins‹!«, sagte er nachdrücklich, als der Rattenvogel zurückwich, und fuchtelte so lange mit seiner behelfsmäßigen Waffe, bis das Vieh den Rückzug antrat.
    Hinterher schlug ihm das Herz zwar bis zum Hals, aber er wusste jetzt, wie er weiter vorgehen musste. Wenn die Rattenvögel Angst vor Feuer hatten, legte er am besten im Eingang der Höhle eine zweite Feuerstelle an. Er holte sich noch ein paar brennende Äste, legte sie ganz vorn in der Höhle übereinander und machte sich daran, noch mehr Brennholz zu sammeln.
    Ein Holzstück, das er fand, war wie ein Ruderblatt geformt. Es konnte natürlich kein richtiges Ruderblatt sein, es sei denn, jemand hätte schon vor ihnen die Insel entdeckt. Hugo legte das Holzstück auf das Feuer. Als er das nächste Stück Holz dazulegen wollte, sah er mit einem Mal, dass darauf etwas geschrieben stand. Im Schein der Flammen betrachtete er die Schriftzeichen.

    Er hatte keine Ahnung, was die rätselhafte Inschrift bedeuten sollte, denn er hatte noch nirgendwo vergleichbare Buchstaben oder Zeichen gesehen. Vielleicht ergaben die eigenartigen Schriftzeichen ja ein Wort, zum Beispiel den Namen eines fremdländischen Schiffes, das an der felsigen Küste zerschellt war. Vielleicht war es aber auch die letzte Nachricht von jemand anderem, der irgendwann in dieser Höhle festgesessen hatte. Aber von wem? Und wo war der Betreffende hergekommen? Und vor allem, wo war er geblieben?
    Voller Neugier steckte Hugo das beschriftete Holzstück unter die Decken in seinem Tornister. Als auch das zweite Lagerfeuerloderte, zog er sich ans hintere Ende der Höhle zurück und legte sich schlafen.
    Doch ehe er einschlief, blickte er noch eine Weile an die Höhlendecke und versuchte, sich auszumalen, wie eine Karte dieses befremdlichen Landstrichs aussehen könnte. Wie mochte die Küstenlinie außerhalb des violetten Strandes